Die Augen des kleinen Mädchens sind
unverwandt auf den Bräutigam gerichtet. Sie findet ihn schön. Als er es
bemerkt, erscheint ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht. Halb verlegen, halb
geschmeichelt lächelt er zurück. Aber genau in diesem Moment spürt das Mädchen,
dass irgendetwas nicht stimmt. Sie könnte es nicht in Worte fassen, aber sie
fühlt eine kleine Kälte, eine kleine Traurigkeit in sich hochkriechen. Sie weiß
nicht warum.
Die Braut lacht viel. Lacht sie sonst
auch so viel? fragt sich das Mädchen. Sie lacht viel mehr als der Bräutigam.
Worüber ist er traurig? überlegt das Mädchen. Sollen heute nicht alle vergnügt
sein? Es ist ihre erste Hochzeit. Ihre Cousine ist 10 oder 12 Jahre älter als sie, so genau weiß
sie das nicht. Sie trägt ein schwarzes Kleid mit weißer Stickerei am Kragen.
Warum ist sie so lustig, wenn er so traurig aussieht? denkt das Mädchen.
Sie steigen alle in einen kleinen Bus
und fahren in den Schwarzwald. Dort ist in einem vornehmen Gasthaus eine
prachtvolle Tafel gedeckt. So etwas hat das Mädchen noch nie gesehen. Zuhause
sind sie alle zusammen 10 Personen. Das
ist auch sehr feierlich, z.B. wenn die Geschwister konfirmiert werden, der
große Tisch weit ausgezogen ist, weiß gedeckt und das russische Geschirr mit
dem kobaltblauen, goldverzierten breiten Rand darauf. Aber jetzt sind es
mindestens 20 Personen, sie kennt nicht alle. Vielleicht gehören sie zu seiner
Familie? An jedem Platz stehen drei Gläser. Ob man da jeden Schluck aus einem
anderen Glas trinken soll? Und erst die Bestecke: überall liegt irgendetwas,
rechts, links und oberhalb der aufeinander gestellten Teller. Es ist ein ganzer
Wald von schimmerndem Weiß und Silber. Die anderen scheinen keine Angst davor
zu haben. Das Mädchen beschließt, immer erst zu schauen, was die anderen machen
mit all diesen vornehmen Geräten, bevor es sie selber in die Hand nimmt. Aber
ob man dann überhaupt noch schmeckt, was man isst, wenn man immer so aufpassen
muss? Sie sucht die dunklen Augen des Bräutigams. Wenn er sie anschaut, fühlt
sie sich sicherer, er ist ja auch fremd. Ob sie ihn fragen soll, warum er
traurig ist?
Nach dem Essen wird eine kleine
Wanderung gemacht. Damit kennt sie sich
aus. Immer machen sie mit der ganzen Familie und allen 7 Kindern am Wochenende
eine Wanderung durch den Schwarzwald. Nie will einer zuhause bleiben. Aber
jetzt sind sie schon da, müssen nicht erst mit dem wackligen Eisenbähnchen
fahren, das sie sonst zum Ausgangspunkt bringt. Ihre Augen suchen wieder den
Bräutigam, sie kann ihn gar nicht finden. Dann versteht sie: das Paar wird in
diesem Gasthaus die Nacht verbringen. Er hat sich umgezogen, sieht jetzt ganz
anders aus als in seinem schwarzen Anzug. Eigentlich hat ihr der Anzug besser
gefallen, so feierlich und ein bisschen ernst.
Plötzlich bleiben ihre Augen wie
magnetisiert an einem kleinen Gegenstand hängen. Am sportlichen Gürtel des
Bräutigams hängt jetzt ein wundersamer kleiner Dolch, einen‘ Hirschfänger‘ hat
sie so etwas schon mal nennen hören. Wozu muss er Hirsche fangen, fragt sie
sich. Sie schaut wieder hin: Der Dolch steckt in einer allerliebsten, genau
angepassten ledernen Hülle, der Griff
ist aus Horn. Das Mädchen ist hingerissen, es ist verliebt, es erfasst sie wie
eine Leidenschaft. Natürlich ist dieser Dolch viel zu klein für den großen
Bräutigam, eigentlich wäre er eher ihrem Alter, ihrer Größe angemessen. Sie
muss unbedingt einen Weg finden, ihm das schonend klarzumachen. Sicher weiß er
das nur nicht. Langsam arbeitet sie sich durch die Leiber der anderen in seine
Nähe vor, wartet, bis sie ihn ansprechen kann.
<Darf ich den mal anfassen?> fragt sie mit mühsam verhohlener Gier. Er
zögert. < Nur kurz>, sagt sie, um ihn zu beruhigen.
< Eigentlich ist das nichts für
kleine Mädchen >, sagt er.
< Für mich aber doch >, sagt
sie.< Ich bin eigentlich ein Junge, man sieht es nur nicht.>
Jetzt lächelt er und nestelt den
Dolch vom Gürtel, reicht ihn ihr. Sie ist wie berauscht. < Steht er mir
nicht gut?> fragt sie. < Passt er
nicht toll zu mir?>
< Kann schon sein>, sagt er. < Aber ich will ihn wieder haben.>
< Aber du hast doch die Braut >,
sagt das kleine Mädchen. < Ist das nicht genug? Mit ihr kannst du doch
spielen.>
Er lacht, aber dieses Lachen mag sie
irgendwie nicht. Lieber soll er wieder
so traurig aussehen.
< Ich hab schon genug mit ihr
gespielt >, sagt er. < Und jetzt gib mir den Dolch zurück >. In seiner
Stimme ist plötzlich ein unangenehmer Klang – weder traurig, noch lustig.
Plötzlich gefallen ihr auch seine Augen nicht mehr. Sie nimmt all ihren Mut
zusammen:
< Kannst du ihn mir nicht
schenken?> Sie erschrickt vor ihrer
eigenen Stimme. Wenn die Tante sie hörte! Solche Bettelei ist unerhört und
streng verboten. Aber die Leidenschaft reißt sie fort. Dunkel spürt sie eine
heimliche Scham. Diesen fremden Mann, der überhaupt nicht mehr so schön traurig
ist und der so plötzlich die Farbe seiner Stimme wechseln kann, dass sie fast
Angst vor ihm bekommt, bettelt sie so unterwürfig an, dass sie sich selber nicht mehr kennt . Vor ihren
Augen schwebt der zierliche kleine Dolch wie Hohn wieder an seinem Gürtel. Sie
möchte ihn wegreißen, fortrennen und ihn nie wieder sehen, diesen scheußlichen
Kerl, der einfach mit ihrer Cousine
spielen kann, der sie morgen mit nach Hause nehmen kann und gar keinen Dolch
braucht, während ihr - das weiß sie
genau – noch viele Abenteuer bevorstehen, wer weiß: vielleicht heute noch, hier
in diesem Wald.
< Lass mich jetzt in Ruhe >,
herrscht er sie an und wendet sich ab.
Vor Enttäuschung und Bitterkeit wird ihr ganz
dunkel vor den Augen. Sie weiß nicht mehr, wie sie wieder zu dem Gasthaus
kommen, wie alle in den Bus steigen außer dem Brautpaar, wie sie wieder nach
Hause fahren. Etwas in ihr ist erloschen. Niemand bemerkt es. Niemand fragt.
Den Bräutigam hat sie nie wieder
gesehen.
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