Das kleine Mädchen – etwas über drei Jahre alt - ist sich ganz sicher: Die Amerikaner werden mit Flugzeugen kommen und für die
Kinder Schokolade abwerfen. So haben es die großen Geschwister aufgeregt
verkündet. Es weiß nicht, was Amerikaner sind. Es stellt sich vor, das sind
ältere Männer, so ähnlich wie der Vati, bei dem sie alle leben. Die wollen
einfach nett zu Kindern sein. Vati ist auch meistens nett, außer, wenn man ihm
beim Nachmittagsschlaf stört.
Schokolade hat es noch nie gegessen
oder auch nur gesehen. Aber so, wie die Geschwister davon reden, muss es etwas
wahnsinnig Schönes sein. Jedenfalls etwas zum Essen. Etwas Süßes. Noch viel
wunderbarer als die Haferflocken mit Milch und etwas Zucker, die sie manchmal,
viel zu selten, abends kriegen. Dann stehen sieben tiefe Teller nebeneinander
auf der Marmorplatte über der Heizung. Zusammen mit der Milch sollen die
Flocken erst aufquellen, bevor sie gegessen werden. Das macht länger satt, behaupten die Erwachsenen.
Mutti oder die Tante lassen aus der geöffneten Tüte die
Haferflocken langsam auf die Teller rieseln. Sieben gierige Augenpaare
verfolgen es mit angehaltenem Atem. Die Erwachsenen versuchen, gerecht zu sein, erklären sie, aber
immer wieder unterbricht sie ein Aufschrei aus vielen Kehlen: <das ist
ungerecht!>, <gemein!>, <der hat mehr!>,<halt!> usw. schallt es durcheinander. Aber die
Großen lassen sich nicht beirren, kennen
das schon, lächeln nachsichtig. Die Älteren bekommen etwas mehr als die Kleineren.
Die drei ‚Piepse‘, die Jüngsten, zu denen das Mädchen gehört, sind jedes Mal
empört: können sie etwa was dafür, dass sie kleiner sind? Haben sie vielleicht
weniger Hunger als die anderen? <Immer
d i e> maulen sie vor sich hin, heimlich überzeugt, dass alles mit
rechten Dingen zugeht, und doch enttäuscht. Was muss Schokolade unvorstellbar herrlich
sein, denkt das kleine Mädchen und überlegt, wie lange der Tag noch dauert.
Aber
was eigentlich ist Krieg? Die Amerikaner kommen , weil Krieg ist. Sie
weiß nur, dass alle in den Keller müssen, wenn die Sirene heult, weil Krieg
ist. Dann sind alle Regeln aufgehoben, außer dieser einen: Kinder müssen so
schnell wie möglich nach unten, die Erwachsenen helfen den älteren Nachbarn
oder tragen irgendwelche Koffer runter. Verstehen kann sie das alles nicht so
recht und keiner erklärt es. Nachher ist meist alles wie vorher. Aber das
Mädchen ist sich sicher, dass Erwachsene sowieso keine Schokolade brauchen. Die
können sich ja immer nehmen, was sie wollen, ohne zu fragen. Deshalb kommen die
Amerikaner jetzt extra für die Kinder, damit ihnen die Erwachsenen nicht alles
wegessen.
Sie weiß schon: niemand achtet in der
Aufregung auf sie. Das ist toll. Dann kriegt sie alles allein. Sie wird sich
noch sehr überlegen, wem sie etwas abgeben wird. Nur Mutti auf jeden Fall.
Mutti ist immer lieb.
Sehnsüchtig wartet sie heute auf die
Sirene. Inzwischen heult sie fast täglich, unerträglich gellend. Rauf, runter, rauf ,
runter – sie hört überhaupt nicht mehr auf. Sofort wird alles verworren, alle
rennen und schreien durcheinander, Kinder haben ihre Weisungen, keiner kann
sich um sie kümmern. Rauf, runter, rauf runter – jeder greift nach etwas und
ein Strom von Menschen trappelt und hastet über die vielen Treppen, die 5
Stockwerke des alten Hauses hinunter, in den Keller. Dort ist es dunkel, kaum
ein paar nackte Birnen, und es stinkt muffig von Kohlen, Gerümpel und alten
Kartoffeln. Es dauert seine Zeit, bis alle hinter der eisernen Tür zum Luftschutzkeller verschwunden sind.
Das kleine Mädchen weiß kaum, wie es zugeht,
aber plötzlich findet sie sich mutterseelenallein auf der Straße. Auf einmal
ist alles vollkommen still. Die Sirenen
schweigen, niemand ist zu sehen. Eine kleine süße Hoffnung quillt in ihr hoch:
Von weitem nähern sich Flugzeuge. <Es stimmt>, jubelt es in ihr. <Die
anderen haben Recht gehabt. Und ich werde ganz allein alles kriegen.> Natürlich kennt sie Flugzeuge. Aber diese
vielen, die jetzt in rasender Eile heranstürmen, sind so tief, wie sie es noch
nie gesehen hat. Noch wehrt sie sich gegen die Angst, die im plötzlich
ohrenbetäubenden Dröhnen der Maschinen
über ihr zusammen schlägt. Entsetzt
fällt sie mitten auf der Straße auf ihren kleinen Po, die Beine wie Gummi. Und
kann noch denken: < Die Tante! Wenn sie das sieht ! Man darf doch nicht mit
dem Kleid auf der dreckigen Straße sitzen.>
Fast glaubt sie, Gesichter hinter den Flugzeugscheiben zu erkennen. Das
müssen die Amerikaner sein. Die fliegen
so tief, dass sie zwischen den weit auseinanderstehenden Häusern durchflitzen
können. Für einen Moment atmet das Mädchen auf. Sie sind vorbei.
Und dann sieht sie von weitem dunkle
Pakete aus den Flugzeugen fallen. <Die Schokolade!>
Im selben Moment scheint der Himmel
über ihr einzubrechen, so überwältigend brüllt es von den Flugzeugen her.
Zitternd vor Entsetzen liegt sie auf der Straße, kann nichts mehr denken.
Da fühlt sie sich unsichtbar von
hinten gepackt und wortlos aufgehoben. Jemand rennt mit ihr ein paar Schritte
und wirft sie in hohem Bogen in den nächsten Hauseingang. Bevor sie sich
besinnen kann, kommt die Mutti ihr
entgegen gelaufen, packt sie und rennt hinunter in die Luftschutzabteilung. In
dem Augenblick, in dem die eiserne Tür sich hinter ihnen schließt, gibt es nur
noch Donnern, Schreien, Krachen, die Wände zittern, das Licht flackert, geht
aus und wieder an. Dem kleinen Mädchen aber geht es gut. Es sitzt bei der Mutti
auf dem Schoß und flüstert ihr ins Ohr, warum es draußen geblieben ist und dass
es der Mutti so gern von der Schokolade abgeben wollte. Die Mutti ist ganz
ruhig, aber merkwürdig blass im Gesicht. Sie sagt nichts, hört einfach zu, nur
ihr Atem geht seltsam schwer. Das kleine Mädchen wundert sich, dass niemand sie
ausschimpft. Irgendwann schläft sie ein.
Nach Stunden wieder die Sirene. Das Mädchen kennt schon die unterschiedlichen
Töne: der lange, der nicht rauf und runter geht und niemals aufzuhören scheint,
bedeutet, dass man wieder rausgehen kann.
Aber diesmal ist alles anders. Die Erwachsenen gucken so komisch und sagen
gar nichts. Die Straße sieht auf einmal völlig anders aus. Überall aufgerissen
und Trümmer und Rauch. Ihr Haus ist fast das einzige, das noch steht, aber alle
Scheiben sind draußen und in der Außenwand gibt es viele Löcher. Aber dann
sieht sie es – ein Wunder: Das Haus
direkt gegenüber an der Ecke ist in der Mitte wie durchgeschnitten. Durch all
den herumfliegenden Staub und Dunst erkennt sie plötzlich ein halbes
Badezimmer. Die Wanne steht noch an ihrem Platz. Sie kann die Tapete sehen, ein
Blumenmuster, und den Handtuchhalter. Daneben ein halbes Wohnzimmer mit Sessel
und Lampe und einem Teppich. Etwas weiter hat auf einem herabhängenden
Bodenstück gerade noch ein Bett Platz, mit zurückgeschlagener Decke, als wäre
jemand gerade erst aufgestanden. In der Küche stehen viele Sachen noch an ihrem
Platz, nur manches ist umgefallen. Das kann man sicher leicht aufräumen,
denkt sie. Aber die Treppe, die zwischen
allem frei in der Luft hängt, macht ihr bange. Kann man denn so ohne alles
Geländer darauf gehen?
Ein heimliches Entzücken durchdringt das kleine Mädchen: <Ein
PUPPENHAUS>, denkt sie. <Nur viel größer. Jetzt kann ich endlich sehen,
was hinter den Wänden ist. Die Leute, die hier wohnen, kommen sicher gleich
zurück. Vielleicht können wir zusammen spielen
. Sie hat gesagt bekommen, dass es in
ihrer Familie kein Puppenhaus geben
wird, das haben nur die Kinder von reichen Leuten. Da hat sie es gesehen und
bestaunt. Spielen durfte sie nicht damit. Aber dieses Puppenhaus gegenüber
gehört jetzt sicher allen. Sie wird sich
nicht daraus verjagen lassen. Gleich muss sie es den anderen Kindern zeigen.
Vielleicht haben sie es noch gar nicht gesehen?
An die Schokolade denkt sie nicht
mehr.
Das ‚Puppenhaus‘ wird zum
herrlichsten Spielplatz der Welt. Niemand hat Zeit, die Kinder zu
beaufsichtigen. Überall klettern sie herum, spielen Krieg oder ‚Vater Mutter
Kind‘ oder Versteck, erobern Zimmer für Zimmer, balancieren über Abgründe.
Manchmal gibt etwas nach, worauf sie stehen, dann fallen sie herunter auf
Steinbrocken und Eisenstangen, rennen blutend nach Haus, werden ein bisschen
geschimpft und verarztet und kehren zurück, um weiter zu spielen. Im Sommer
wird die Trümmerlandschaft zum Dschungel, der die gefährlichen Stellen
überwuchert. Nur die Kinder kennen die Geheimnisse dieses unwegsamen Geländes.
Sie wissen, an welcher Klingel man einen elektrischen Schlag bekommt, welche
Pumpe tatsächlich Wasser spendet und bis zu welcher unsichtbaren Linie die
hängenden Böden im ‚Puppenhaus‘ das Gewicht eines Kindes tragen, ohne
einzubrechen. Erwachsene wären hier verloren. Warum, denkt das kleine Mädchen
manchmal, schimpfen alle auf den Krieg?
Im Winter werden die meterhohen
überschneiten Trümmerberge rechts und links der Straße zu glitschigen Gebirgen.
Jeder entwickelt seine eigene Technik, auf dem schmalen Grat bis zur Milchfrau
zu gelangen und die volle Milchkanne dann unversehrt zurückzubringen. Dabei ist
es Ehrensache, die gefüllte Kanne wie ein Mühlrad so schnell um 360° zu
wirbeln, dass kein Tropfen herausfällt. Aber sie ist die
Jüngste von den sieben. Ihre Kräfte
sind noch begrenzt, ihr Ehrgeiz freilich grenzenlos. Sie will alles genauso gut
können wie die anderen. So kommt es, dass sie eines Tages unfreiwillig die
Bedeutung eines Wortes lernt, das sie
sonst nur aus Märchen kennt: ÜBERFLUSS. Am Anfang geht alles ganz leicht, ein,
zwei Umdrehungen gelingen. Es müssen aber drei sein. Bei der dritten wird sie
von einem bläulich-weißen Schwall überschüttet. Sie schaut entsetzt an sich
herunter: alles ist weiß. Für ein paar Sekunden ist sie überwältigt von dem
Gefühl, in der kostbaren Milch für die ganze Familie zu baden. Wie ‚Hermelin‘ ,
denkt sie. Ein Königinnenmantel. Dann löscht die Angst vor der Strafe dies unbotmäßige Glücksgefühl
aus.
Die Strafe hat sie vergessen, das
Glücksgefühl nicht.
55 Jahre sind ins Land gegangen. Das
kleine Mädchen von damals hat Kinder und Enkel und einen schönen Beruf, der es
ihm erlaubt, die alten Kinderträume unter der Oberfläche ein bisschen weiter zu
träumen. Noch immer möchte sie hinter die Mauern und Fassaden sehen, die die
Menschen um sich errichten, das ist ein Teil ihrer Arbeit geworden. Eines Tages
wird sie von einer Kollegin zum Tee eingeladen.
Als sie das Zimmer betritt, trifft es
sie wie ein Schlag: Ein PUPPENHAUS, beinahe halb so hoch wie der Raum. Drei
Stockwerke, ein Dachboden, Treppen, Flure, Badezimmer, Küchen, Schlafzimmer,
Salons, Balkone, alles zum Hineinsehen, Hineingreifen –
nicht genug kann sie die Pracht bestaunen, die Kronleuchter, das winzige
Schachspiel auf dem Bett, die Toilettengegenstände, die vornehmen Tapeten, das
elegante Mobiliar. Es ist, als wäre das zerstörte Haus von gegenüber wieder
auferstanden, wäre halb und doch ganz heil.
Sie kann sich nicht satt sehen: all
die zierlichen Lampen lassen sich entzünden, das winzige Nähkörbchen enthält
alles Nötige, die fingernagelgroßen Bücher lassen sich aufschlagen und im Kamin
flackert ein tröstliches Feuer. Eine Möglichkeitswelt, ein ‚Noli Me Tangere!‘,
eine konkrete Utopie. Aus der zeitlichen und räumlichen Distanz erwächst die
Unantastbarkeit dieser fragilen Schönheit, einer Harmonie, die nie Harmonie war
und aus deren Widersprüchlichkeiten sich die herrlichsten Geschichten woben.
Die Besucherin denkt an ihr
begehbares Trümmer-Puppenhaus aus der Kindheit und weiß nicht, welches schöner
war, schöner ist. Begehen versus Besitzen? Erinnerung versus Materie? Das
Veränderliche und das Feste? Auch dieses Haus vor ihr hat seine
Geschichte, i s t Geschichte, erzählt Geschichten. Man muss sie
nur zu ‚lesen‘ wissen.
Wie gut, dass ich nicht wählen muss, denkt sie.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen