Der
Schulweg ist ganz kurz, in vier Minuten könnte Ilka ihn schaffen. Wie kommt es
nur, dass sie immer wieder ein paar Minuten zu spät kommt, obwohl sie pünktlich
weggeschickt wird? Mutti ist schuld. Mutti steht immer auf dem hohen Balkon,
der aussieht wie ein Burgsöller, und winkt jedes Mal, wenn Ilka sich umdreht.
Es gibt eine ziemlich befahrene Straße zu überqueren und sie will sicher sein,
dass Ilka heil auf die andere Seite kommt. Früher müssen hier Hirsche längs
getrottet sein, denn sie heißt Hirschstraße. Aber jetzt gibt es nur noch Autos.
Das kann sie vom Balkon aus genau sehen. Ilka findet es herrlich, dass die Mama
da steht. Deshalb dreht sie sich immer öfter um und winkt. Sie will zeigen,
dass sie das alles beherrscht, aber zugleich fühlt sie sich bei jedem Winken
von der Mama ein bisschen gestreichelt – etwas, was die eigentlich nicht so oft
macht. Es ist nicht ihre Art, überhaupt wird in dieser Familie nicht viel
geschmust. Darum ist das Winken so wichtig. Sie ist ja auch erst in der dritten
Klasse. Und wieder ist sie natürlich zu spät.
Aber heute
lässt die Lehrerin nicht mit sich spaßen. Sie ist eine alte Dame mit weißem
Haar, das im Nacken zu einem Knoten gefasst ist, und heißt Fräulein Schäfer.
Das ‚Fräulein‘ ist ihr sehr wichtig. Unvorstellbar, dass jemand sie als ‚Frau
Schäfer ‚ ansprechen würde. Sie würde es glatt für eine Unverschämtheit halten.
Beim Sprechen macht sie oft den Mund auf und zu, ohne wirklich etwas zu sagen. Das
findet Ilka komisch – wie ein Fisch, der nach Luft schnappt. Aber eigentlich
kommt sie ganz gut mit ihr aus. Bei Diktaten hat sie schon manchmal gemerkt,
dass Fräulein Schäfer gerade die richtigen Worte nicht einfallen und hat ihr blitzschnell
ausgeholfen. Sie hat sich einfach ausgedacht, was jetzt kommen müsste. Einmal
hat sich Fräulein Schäfer extra bei ihr bedankt.
Aber heute
ist alles anders. Sie hat zu viel gewinkt und ist 4 Minuten zu spät gekommen.
Fräulein Schäfer ärgert sich. Wahrscheinlich hat sie sowieso schon schlechte
Laune. Sie weiß natürlich, wie nah Ilka wohnt und macht sich lustig darüber –
so als ob sie zu klein und zu dumm wäre, den leichten Weg schnell genug
zurückzulegen. Und das mit dem Winken will Ilka natürlich nicht sagen, das
würde niemand verstehen. Soll sie nur wagen, über die Mutti zu schimpfen, denkt
Ilka. Jetzt soll sie sich also entschuldigen. Das findet Ilka lächerlich. Ist doch klar,
dass sie es nicht mit Absicht getan hat. Muss man denn Sachen, die klar sind,
noch eigens vor der ganzen Klasse gestehen wie eine große Schuld? Sie schweigt
– und denkt: hoffentlich ist das hier schnell vorbei und ich kann auf meinen
Platz. Alles andere ist mir egal.
Fräulein Schäfer ist anderer Meinung.
Voller Hohn fordert sie die Klassenbeste auf, Ilka vorzusagen, wie sie sich
entschuldigen soll. Heidi steht auf. Sie sieht schön aus mit ihren riesigen
blauen Augen und dem weizenblonden, etwas lockigen Haar. Heidi macht nie etwas
falsch und weiß alles. Ilka kann sehen, was Fräulein Schäfer denkt. Sie denkt:
Warum sind nicht alle Kinder so wie Heidi? Warum muss ich mich mit dieser
störrischen Ilka so rumärgern? Geradezu liebevoll schaut sie auf das brave,
hübsche Mädchen, als wäre es ihr eigenes Kind. Eins weiß ich, denkt Ilka:
So wird sie mich nie anschauen, da kann
ich machen, was ich will. Aber will ich das überhaupt? Wehmütig denkt sie an
die Mutti auf dem Balkon, derweil Heidi gehorsam herunterleiert: ‚Liebes
Fräulein Schäfer, bitte entschuldigen Sie, dass ich zu spät gekommen bin. Ich
will es nie wieder tun.‘
Woher weiß ich das? denkt Ilka. Das
kann ja immer wieder passieren. Wie kann ich das versprechen? Sogar wenn ich
mir riesige Mühe gebe…
Sie schweigt. Sie spürt, dass schon
alles zu spät ist, dass sie ihre Gedanken niemand erklären kann. Irgendjemand
wäre immer beleidigt. Es hat keinen Zweck. Man muss das hier einfach
durchstehen.
Die Lehrerin fängt an zu schreien.
Dabei wird sie puterrot. I L K A – schreit sie mehrere Male, ILKA! wirst du dich
sofort entschuldigen? Du sollst dich jetzt sofort entschuldigen. Na, los –
wird’s bald? Noch einmal muss die blonde Heidi ihr Sprüchlein aufsagen –
umsonst. Jetzt wird die ganze Klasse aufgefordert, dasselbe im Chor zu sagen.
Ilka schweigt. Fräulein Schäfer greift zu stärkeren Mitteln. Sie sagt: Steht
alle auf. Wir wollen gemeinsam dafür beten, dass Ilka ihr Verhalten bereut und
von ihrem Trotz lässt. Alle stehen auf und falten die Hände. Dann erfindet die
Lehrerin ein extra Gebet, das Ilkas Sünden aufzählt und um ein Ende ihrer
Verstocktheit bittet. Ilka denkt: wenn das die Mutti wüsste, sie würde es nicht
glauben. Kann denn so etwas Kleines wie Zuspätkommen eine richtige ‚Sünde‘
sein? In ihrer Familie geht niemand in die Kirche und es wird nicht gebetet.
Aber sie war ein paarmal mit anderen Kindern im Kindergottesdienst, da haben
sie schöne Geschichten von Jesus erzählt. Aber eigentlich kann die Mutti das
viel besser. Manchmal darf sie – weil sie die Jüngste ist – sonntagmorgens zu
ihr ins Bett, und dann erzählt sie auch biblische Geschichten– aber viel
spannender.
Und von ‚Sünde‘ hat sie noch nie was
gesagt. Nur, dass Jesus alle Kinder gern hatte, nicht nur die braven und
hübschen. Fräulein Schäfer, zu diesem
Schluss kommt Ilka, hat nur Kinder gern, die ihr alles nachplappern. Sie
schweigt. Plötzlich verlässt die Lehrerin das Klassenzimmer.
Was kommt jetzt, denkt Ilka. Ob ich
mich einfach hinsetzen kann? Immer noch steht sie vor der ganzen Klasse. Dann
geht die Tür wieder auf. Herein kommen Fräulein Schäfer und Frau Friedrich, die
evangelische Religionslehrerin – sie haben beide ernste Gesichter. Ilka muss einen Moment darüber nachdenken,
warum die eine ‚Frau‘ und die andere ‚Fräulein‘ heißt, obwohl Fräulein Schäfer viel älter ist. Frau
Friedrich ist eigentlich ganz nett – meistens jedenfalls. Aber neulich hat sie
Ilka richtige Tatzen gegeben, weil sie im Unterricht geredet hat. Erst hat sie
nur gedroht und gesagt: Gleich wirst du weinen. Und Ilka hat gesagt: Ich werde
ganz bestimmt nicht weinen. Und dann hat ihr Frau Friedrich tatsächlich 5
Tatzen gegeben, auf die ausgestreckte Hand und mit dem gespaltenen Stock, und
hat immer stärker zugeschlagen, um sie zum Weinen zu bringen. Aber Ilka hat
nicht geweint. Sie hat sogar gelacht, obwohl es scheußlich weh tat. Sie hat
laut gelacht; man hätte sie totschlagen können. Am Ende bemerkte sie in den
Augen von Frau Friedrich etwas Unverständliches, es sah fast so aus wie
Anerkennung. Ich versteh das alles nicht, denkt Ilka. Warum haut sie mich dann?
Und was soll jetzt passieren? Widerwillig wendet sie ihre Aufmerksamkeit wieder
den Geschehnissen in der Klasse zu.
Fräulein Schäfer sagt jetzt: Steht noch einmal auf, Kinder, und
faltet alle eure Hände. Ich habe Frau Friedrich zur Hilfe geholt, weil sie als
Religionslehrerin besonders gut über den lieben Gott Bescheid weiß. Wir wollen
mit ihr noch einmal zusammen beten, dass der TEUFEL von Ilka abspringt und sie
wieder ein artiges Mädchen ist. Und damit er wirklich abspringen kann, wollen wir die Tür fest abschließen und
das Fenster weit öffnen, während wir beten. Ilka schaut ungläubig: Das kann
doch jetzt nicht Ernst sein, oder? Aber alle starren sie an, als hätte sie eine
eklige, ansteckende Krankheit. Und dann fangen sie auch schon an zu beten.
Diesmal ist es ein langes Gebet, Ilka versteht nicht alles, aber die Worte
Sünde, Vergebung, Teufel und Gnade dringen durcheinander an ihr Ohr und machen
ihr ganz schwindlig. Reden die immer noch von mir? denkt sie fassungslos und
muss mit einer plötzlichen, ungläubigen Lachlust kämpfen. Mutti, denkt sie,
Mutti kann ich das gar nicht erzählen. Sie wird mir kein Wort glauben. Sie wird
sagen, das hätte ich alles erfunden. Das gibt es nicht. Ihr fällt plötzlich
ein, dass Mutti an ihrer Schule ja auch eine Zeitlang unterrichtet hat,
vielleicht zwei Jahre lang, und dass sie immer lachend erzählt hat, dass alle
‚Fräulein Schroeder‘ zu ihr sagten, obwohl sie wussten, dass sie vier Kinder
auf dieser selben Schule hatte. Sie hat auch erzählt, dass der Vati im Krieg
gestorben ist und dass sie deswegen alle von Berlin nach Karlsruhe gekommen
sind, weil da ihre Schwester wohnt. Und das weiß Ilka genau: Wenn man Kinder
hat, ist man ganz bestimmt eine Frau und kein Fräulein. Warum haben die dann
‚Fräulein‘ zu ihr gesagt? Mutti hat nur gelacht und gesagt, das weiß sie auch
nicht und dass es ihr egal ist.
Wie durch einen Nebel schweifen Ilkas
Gedanken wieder in das Klassenzimmer, in dem sie steht. Inzwischen hat man die
Tür fest abgeschlossen und Fräulein Schäfer hat das Fenster so weit geöffnet,
wie es nur geht. Und jetzt, sagt sie, stellen wir die Ilka mit dem Rücken ganz
dicht ans Fenster, damit der Teufel von ihr abspringen kann. Tatsächlich wird
sie ans Fenster geschoben. Dann wird wieder gebetet.
Ilka ist fassungslos. Dann wächst ein
Satz in ihr, arbeitet sich von tief drinnen, ganz nach vorne, bis auf ihre
Zunge. Ein bisschen kämpft sie noch mit sich. Sie weiß, dieser Satz wird diese
ganze Szene zerschmettern, wird alles in tausend Splitter auflösen. Vielleicht
kann sie sich dann endlich setzen? Sie steht jetzt schon seit fast einer
Stunde. Und schweigt seit fast einer Stunde. Langsam öffnet sie den Mund,
versucht noch halbherzig, den Satz zurückzuhalten. Dann sagt sie ruhig mit
ihrer tiefen, rauen Stimme in die atemlose Stille hinein: WENN DAS EIN
ANSTÄNDIGER TEUFEL IST, DANN KANN ER AUCH DURCHS SCHLÜSSELLOCH. Tödliche Pause. Dann fangen die Kinder langsam
an zu kichern und zu glucksen, es gibt einen ungeheuren Aufruhr, Ge-
schrei, sogar Weinen. Mehr weiß sie
nicht. Die Stunde ist zu Ende.
Bis zum Ende des Halbjahrs muss sie
in der letzten Bank sitzen und kein Kind darf mit ihr sprechen. Wenn sie sich
im Unterricht meldet, wird das ignoriert. Auch ihre einzige, wichtige Freundin
muss sich an das Verbot halten, aber sie
ist ihr nicht böse. Wenn sie dahinten so allein sitzt und alles im Blick hat,
auch Fräulein Schäfer, hat sie das Gefühl, so etwas wie einen Kampf bestanden
zu haben.
.
Wochen und Monate vergehen und dann
ist es plötzlich kurz vor Weihnachten. Im Klassenzimmer gibt es eine Feier mit
Kerzen und Singen und Gedichten, dann verabschieden sich alle für die Ferien
voneinander. Niemand spricht zu Ilka, sie steht ein bisschen verloren herum und
weiß nicht, was sie jetzt machen soll. Am besten, sie geht einfach nach Hause.
Während sie noch überlegt, gibt es
hinter ihr plötzlich eine Stimme, eine ganz unverwechselbare Stimme, und sie
spürt, wie ihr warm ums Herz wird. Und die Stimme ihrer Freundin sagt: Fräulein
Schäfer, ich will mich jetzt von der Ilka verabschieden, weil sie meine Freundin
ist. Meine Mutter hat gesagt, dass man an Weihnachten niemand mehr böse sein
darf. Und während Fräulein Schäfer noch sprachlos den Mund auf und zu sperrt,
nimmt sie Ilka, ohne auf eine Erlaubnis zu warten, einfach in den Arm und
drückt sie ganz fest.
1 Kommentar:
Was für eine unglaubliche Geschichte, mitten in unserem Jahrhundert - n i c h t im Mittelalter, sondern in einer großenteils vom Krieg zerstörten Stadt. Man sollte meinen, die Erwachsenen hätten zu dieser Zeit eher darüber nachdenken können, welcher Teufel sie selber geritten hat, statt an kleinen Kindern ihre Wut über den verlorenen Krieg und alle damit verbundenen Verluste abzureagieren. Bald wir es kaum noch Menschen geben, die mit solchen Erinnerungsgeschichten zum Reflektieren darüber einladen, woher dieses kleine Mädchen seine erstaunliche Widerstandskraft nahm.
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