Heute ist Montag. Montags muss immer
eingekauft werden, soviel weiß Ilka schon. Einkaufen findet sie scheußlich, vor
allem, wenn sie allein gehen muss. Aber sie ist die einzige, die noch nicht zur
Schule geht, also gibt es kein Entrinnen.
Da kommt auch schon die Tante mit
einem Zettel in der Hand. >Gib den einfach der Verkäuferin< sagt sie.
>Der Geldbeutel liegt in der Tasche<.
Es ist Winter und richtig kalt. Ilka
hat ausgeleierte lange Strümpfe mit Strumpfhaltern aus Gummi an, die sind an
einem Leibchen gestgeknöpft und ziepen immer; darüber ein Kleid, das sie von irgendjemand
geerbt hat. Es ist nicht besonders dick, einfarbig dunkelblau, ein bisschen streng für ein
kleines Mädchen, aber wer kann sich um sowas kümmern. Einmal abends hat Mutti
wenigstens den Kragen und die Armbündchen mit buntem Perlgarn bestickt. Ilka
ist ganz stolz, wie schön sie jetzt ist. Trotz der eisigen Kälte lässt sie ihr
fadenscheiniges Mäntelchen offen, damit alle es sehen können.
Sie muss mindestens vier Straßen weit
gehen und dann rechts um die Ecke zum Konsum-Geschäft – die Tante schärft es
ihr nochmal ein. Von Weitem sieht sie schon die Riesenschlange vor dem Laden –
das hat sie geahnt. Deshalb ist die
Tante nicht selber gegangen – sie ist auch zu ungeduldig. >Wie ich< denkt Ilka. >Aber was kann ich tun<?
Sie stellt sich an, langweilt sich, betrachtet
die Leute mit ihren Mützen und Kopftüchern, den Einkaufsnetzen und großen
Taschen. Einige reden miteinander, andere starren düster vor sich hin, viele
beklagen sich, jammern oder lachen auch mal, aber das ist selten . Ilka weiß
nie, was von ihr erwartet wird und hofft, dass niemand sie anspricht. Sie ist
schüchtern und versteht oft nicht, wenn die Großen etwas lustig finden. Sie
steht und trippelt unruhig, als sie merkt, wie ihre Füße kalt werden, und
überlegt, warum die Schlange überhaupt nicht kleiner wird.
Vor ihr passiert plötzlich etwas
Furchtbares: Eine alte Frau ist zu Boden gestürzt und versucht erst gar nicht , wieder
aufzustehen. Ilka bleibt das Herz stehen. Ob sie tot ist? Wie kann sie auf dem
eisigen Boden liegen, wenn sie nicht tot ist? Was wird man mit ihr machen? Kann
man sie einfach so liegen lassen und irgendwelche anderen holen sie dann ab?
Irgendwie fühlt sie sich schuldig, weil sie noch stehen kann, aber sie traut
sich nicht, Fragen zu stellen. Sie weiß nur, dass viele Menschen Hunger haben,
das hat die Mutti ihr erzählt. Aber kann man sich denn einfach mit allen
Kleidern auf die dreckige Straße legen? Der Bruder fällt ihr ein, der neulich
von allen erst ausgelacht, dann geschimpft
wurde, weil er heimlich Lebensmittelkarten geklaut und die Marken, auf denen BROT stand,
verschlungen hatte. Er hatte geglaubt, sagte er, wenn BROT drauf steht, würden
sie genauso satt machen wie Brot. Und zwei Wochen später war die Konfirmation
des ältesten Bruders: da kippte derselbe Bruder, der die Marken gegessen hatte,
während des langen Glaubensbekenntnisses im Stehen in der Kirche plötzlich
kreidebleich und schweißnass ohnmächtig über die Kirchenbank. Ilka hatte neben
ihm gestanden und daneben die Tante. Sie erschrak zu Tode, als er da so
plötzlich leblos über der Bank hing und wusste mal wieder nicht, ob sie etwas
tun müsste. >Kann man denn einfach aufhören zu
beten, wenn so etwas passiert, oder ist dann der liebe Gott beleidigt<?
hatte sie gedacht und die Sekunden gezählt, bis endlich die Tante reagierte und
sich um den Bruder kümmerte. Und nun diese alte Frau vor ihr auf dem Boden, die
einfach liegen bleibt. Die älteren Geschwister haben erzählt, wenn man sich in
solcher Kälte nicht bewege, könne man ganz leicht sterben.
Jemand spricht sie an: >Zeig doch
mal her, du hast ja ein schönes Kleidchen an<, sagt die Frau. >Hat das
die Mutti gemacht? Das ist ja ein richtiges Sonntagskleid<. Ilka muss das
zurechtrücken: >Das ist mein einziges Kleid gerade, aber Mutti hat es
bestickt<. Sie spürt einen heimlichen Tadel in der Frage: Heute ist doch
kein Sonntag. Geht man so feierlich zum Einkaufen?
Unerträglich langsam rückt die
Schlange vor. Als Ilka endlich drankommt, ist nicht mehr alles da, was sie
kaufen soll. >Die Tante<, denkt sie, <die wird sicher wütend sein<.
Aber was kann ich machen, wenn manche Erwachsene sich vordrängeln oder einfach
auf den Boden legen<? Die alte Frau wurde von allen vorgelassen. Als Ilka
heimkommt, hat der Einkauf drei Stunden gedauert.
Wie erwartet, ist die Tante äußerst
unwirsch und Ilka fühlt sich schuldig, obwohl sie weiß, dass sie es
ausnahmsweise nicht ist. Gleich wird sie woanders hingeschickt: sie soll einen
Kuchen zum Bäcker nebenan bringen. Der schiebt ihn mit in seinen riesigen Ofen
und bäckt ihn aus. Der Herd zuhause ist kaputt oder es gibt kein Gas, so genau
weiß Ilka das nicht.
Zum Bäcker geht sie gern. In der
Backstube ist es immer warm und riecht gut, und draußen im Hof liegen auf
großen, übereinander angebrachten Brettern die fertig gebackenen Brötchen zum
Abkühlen, bevor sie in den Laden gebracht werden. Ein herrlicher Anblick!
Als Ilka die Kuchenform abgegeben
hat, bleibt sie träumerisch vor den Brettern stehen. Brötchen gibt es natürlich
nie zuhause, viel zu teuer für eine Familie von zehn Personen. Aber hier liegen
auch noch diese wunderbaren ‚Einbacks‘, die aneinander gewachsen scheinen und
wie goldbraune Klaviertasten schmal nebeneinander liegen. Das Wasser läuft ihr im Mund
zusammen. Sie erinnert sich, sie schmecken beinahe wie Kuchen, ein bisschen süß
– einmal im Leben durfte sie bei irgendjemand ein Stückchen abbeißen.
Ilka schaut sich um. Niemand ist zu
sehen. Sie schaut an den Häusern hoch: Niemand ist am Fenster. Sie ist allein
mit ihrem Hunger und dieser einmaligen Gelegenheit. >Da sind doch so
viele< denkt sie; >niemand wird etwas merken, ich mach’s ja auch nie
wieder, nur dies e i n e Mal<. Bevor sie zu Ende denken kann,
schlägt die Sehnsucht nach diesem Einback - e i n e m ganz für sie allein – über ihr zusammen. Sie
weiß nicht, wie – aber plötzlich hält sie einen in der Hand, erschrickt, rennt
weg, nur schnell aus dem Hof und rein in den eigenen Hauseingang gleich
nebenan, vier steile Treppen hoch und den Einback verstecken unter dem Kleid,
damit die Tante nichts merkt. Und dann abbeißen, sobald sie allein ist.
Aber der Bissen bleibt ihr im Halse
stecken. Die Tante kommt wieder. Jetzt spürt sie die Angst in allen Gliedern,
denn gleichzeitig klingelt es an der Tür. In Panik wirft sie den Einback an die
schmutzigste Stelle in der ganzen Wohnung, unter den alten Besenschrank, würgt
den Bissen hinunter, ohne etwas zu schmecken, und schon kommt die Vergeltung.
Irgendjemand hat d o c h
etwas gesehen, sie versteht es nicht. Da war doch niemand. Aber die
Tante weiß schon alles, der Bäckergeselle
steht vor der Tür und petzt. Wütend zerrt sie Ilka an der Hand nach
unten und in die Backstube, will sie zwingen, sich zu entschuldigen. Aber Ilka
bringt keinen Ton heraus – man könnte sie totschlagen. Also presst die Tante –
immer wütender – selber eine Entschuldigung hervor und schimpft die ganzen vier
Treppen auf dem Rückweg unaufhörlich. >Was schämen soll sie sich – so eine
Schande, ihr das anzutun. Wenn das alle anderen hören, kann sie was erleben<.
Ilka denkt an ihren Einback – so
einsam unter dem Schrank im Dreck. Sie weiß schon, sie wird ihn nicht mehr
essen. Sie will jetzt nur einfach alles vergessen.
Am Ende weiß sie tatsächlich nicht
mehr, ob sie ihn in den Mülleimer geworfen oder unter dem Schrank liegen lassen
hat. Aber in ihrem Kopf bleibt das Bild des angebissenen Einbacks unter dem
Schrank haften wie eine ewige Schuld und wie das nie eingelöste Versprechen
unerreichbarer Köstlichkeit.
1 Kommentar:
Als ich diese Geschichte gelesen habe, kamen bei mir die Kindheitserinnerungen zurück. Ich muss so etwa fünf Jahre alt gewesen sein, als meine Mutter mich kurz vor dem Mohnatsende mit der letzte Münze zum Bäcker schickte um ein Brot zu kaufen.Ich steckte die Münze in meinen Fausthandschuh denn es war Winter und sehr kalt. Beim Bäcker durchgefrohren angekommen stellte ich fest, dass die Münze nicht mehr in meinem Handschuh war. Ohne Brot musste ich wieder umkehren. Ich hatte furchtbare Angst, weil wir fünf Personen nun kein Brot mehr zum Essen hatten. Ich erwartete Böses bei meiner Rückkehr. Aber das Gegenteil trat ein - meine Mutter tröstete mich und fand die Münze plötzlich im Handschuhfutter. Eine Stoffnaht im Handschuh hatte ein Loch durch das die Münze ins Futter gelangte.....
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