Unheimliche Begegnung




Es ist Winter und wird schon früh dunkel. Meine Cousine und ich haben uns an den Flügel gesetzt und angefangen, Weihnachtslieder zu üben. Sie ist ein paar Jahre älter und kann schon richtig begleiten, sogar während sie selber mitsingt. Manchmal singen wir zweistimmig. Vier Wochen vor Weihnachten fangen wir immer damit an, während die Eltern die Weihnachtsbäckerei anlaufen lassen. Das Kleingebäck, also die Kekse, wie wir sagen, sind immer das Beste: 14-15 verschiedene Sorten werden gemacht, und immer die doppelte Menge des Rezepts, weil wir so viele sind und weil immer noch andere Familien etwas davon abkriegen müssen, die weniger Geld haben.
Jeder hat seine speziellen Lieblingskekse. Dabei müssen wir abwechselnd meistens helfen: Butter schaumig rühren, mit Guss bestreichen, die Mandeln mit heißem Wasser übergießen und schälen, später in der Mühle mahlen oder alle Zutaten in der Schüssel vermengen, noch später dann ausstechen und was dergleichen Arbeiten mehr sind. Wenn die Mutti dabei ist, singen wir auch oft mehrstimmig beim Backen und Abwaschen. Zwischendurch muss man ja immer warten, bis etwas fertig ist und das nächste Blech nachrücken kann. Es ist warm in der Küche vom Backofen und es riecht ganz herrlich. Ein bisschen fängt Weihnachten jetzt schon an.
Aber heute werden wir unterbrochen. Ingrid wird in der Küche gebraucht und ich soll zu Frau Köhler gehen und eine Kanne mit Suppe hinbringen, die gestern bei uns übrig geblieben ist. Wir haben keine Zeit zum Ärgern, es ist eilig. Mutti versucht, mir den Auftrag schmackhaft zu machen. Sie sagt:  Du bist ja schon ganze acht Jahre, Du hast doch keine Angst im Dunkeln. Obwohl ich keineswegs gewöhnt bin, im Dunkeln allein unterwegs zu sein, stimme ich wild entschlossen zu. Wenn Mutti mir das zutraut, dann  m u s s  es einfach gehen. Sie  hat dann so etwas in den Augen, als hätte sie sich noch nie getäuscht – besser: als hätte man sie noch nie enttäuscht. Und dann will man sie eben auch um keinen Preis enttäuschen. Aber es klappt nicht immer.
Zieh dich warm an, sagt sie noch und reicht mir die schwere Milchkanne, in die über 2 Liter reingehen und die ich schon deshalb nicht leiden kann. Sogar wenn sie leer ist, scheint sie viel schwerer als die andere, kleinere, die aus Blech. Und die Suppe ist natürlich viel schwerer als die Milch. Aber die Köhlers haben ja auch zwei Kinder, die beide ein bisschen dick sind und irgendwas ist mit dem Vater los, was ich nicht genau weiß. Der ist meistens nicht da oder kommt manchmal unangemeldet und fängt an zu heulen und auf die Knie zu fallen und zu betteln, dass er wieder in der Hirschstraße bei allen zuhause sein möchte, aber seine Frau will ihn nicht mehr, weil er nicht arbeitet und ihr kein Geld gibt und sie mit allen Sorgen sitzen lässt und manchmal auch gemein zu ihr ist. Manchmal lässt sie ihn aus Mitleid wieder rein, und dann geht alles von vorne los. Die Großen bei uns sind alle ganz böse auf ihn und versuchen, der Familie zu helfen. Deshalb kochen sie oft ein bisschen mehr und jemand muss es hinbringen.

Eigentlich würde ich viel lieber beim Backen helfen, wenn wir schon mit dem Klavier aufhören müssen – aber da stehe ich schon mit der schweren Kanne auf der Straße. Den Weg weiß ich, er ist ganz leicht. Einmal rechts um die Ecke, das ist schon die Hirschstraße, und dann immer geradeaus bis über die Brücke, und danach kommt schon nach 3 Häusern die Nummer 34, auf der linken Seite. Und auf dem Rückweg einfach alles umgekehrt: immer geradeaus und dann bei der Südendstraße nach links bis zu unserem Haus. Kinderspiel!
Die Straßen sind völlig leer. Auch Autos nur ganz selten.  So ist es mir sogar lieber. Wenn Fremde etwas zu mir sagen, weiß ich nie, was ich antworten soll oder was sie erwarten. Ältere Frauen tun das öfter beim Einkaufen und während ich noch überlege, was ich sagen kann, werden sie schon ungeduldig oder sogar unfreundlich und denken, ich bin schlecht erzogen. Dabei weiß ich nur oft nichts mit ihren Fragen anzufangen. Einmal hat mich eine gefragt:
Ja Kind, dei Händ‘ sin ja ganz rot, hat dir dei Mudder  koi Handschuh gebbe??
Irgendwie spürte ich einen Vorwurf gegen meine Mutter und sagte trotzig: doch, ich hab sie nur vergessen. Aber das war nicht die Wahrheit. Wir hatten einfach kein Geld für 7 Paar Kinderhandschuhe. Auch noch für Kinder, die ständig wachsen.
Der Hinweg ist schnell geschafft. Frau Köhler freut sich so sehr, dass ich mich ein bisschen schäme, als sie sich überschwänglich bedankt. Natürlich fragt auch sie:
Ist es dir denn nicht zu kalt und hast du keine Angst im Dunkeln?
 Bei ihr weiß ich, dass sie es freundlich meint.
Überhaupt nicht, sage ich stolz und glaube mir beinahe selber.
Aber nun kommt der Rückweg. Gleich nach der Brücke ist eine Stelle, die ich nicht leiden kann, sogar bei Tage. Es gibt da Bäume und Sträucher unter der Brücke und einen kleinen Weg, der unten und oben verbindet. Manchmal sind da irgendwelche frechen Bengel, die versuchen, den Mädchen Angst zu machen. Die sind stärker und tun  immer so, als würden sie einen auslachen – wofür eigentlich? Einfach, weil man ein Mädchen ist??
Ich will nicht länger darüber nachdenken und lieber schnell an der blöden  Stelle vorbei. Fast ist es gelungen, da höre ich plötzlich eine tiefe Stimme neben mir:
Wohin gehst du denn so eilig?
Wie aus dem Nichts und lautlos hält ein Mann neben mir auf seinem Fahrrad. Ach so, denke ich, der fragt sicher gleich nach einer Straße – hoffentlich weiß ich die überhaupt. Aber er schweigt und schaut mich ganz merkwürdig an.
Nach Hause, sage ich, und will schnell weiter gehen.
Und wo ist das?
In der Südendstraße.
Hast du keine Angst so allein?
Krampfhaft denke ich darüber nach, warum alle immer fragen, ob ich keine Angst hätte. Er guckt immer noch ganz komisch.
Nein – sage ich und will mich schnell vorbeidrücken. Aber er redet weiter und man darf doch nicht unhöflich sein.
Soll ich dir etwas ganz Schönes zeigen?
Warum? Sie kennen mich doch gar nicht.
Gib mir deine Hand, dann zeige ich es dir.
Er nimmt ohne zu warten meine Hand und fängt an, in seiner Hosentasche zu kramen. Ein eisiger Schreck durchfährt mich. Mit einem halben Blick sehe ich: Er ist gar nicht richtig angezogen. Seine Jacke und seine Hose sind offen. Ich denke: Er ist verrückt. Vielleicht ist er krank. Er muss sich ja totfrieren. Merkt er denn gar nichts?  Ich kann es ihm doch nicht sagen - und überhaupt: Ich soll ja nicht mit Fremden reden. Aber ich soll auch nicht ungezogen sein – was soll man denn eigentlich machen, wenn so was Komisches passiert?
Blitzschnell reiße ich meine Hand weg und fange an zu rennen, und renne und renne, bis ich völlig außer Atem zu Hause ankomme. Einen Augenblick taucht der Mann noch einmal auf dem Rad neben mir auf und sagt etwas, aber ich verstehe es nicht, renne nur weiter.
Zu Hause klingle ich Sturm. Erst hinter der schweren Haustür fühle ich mich sicher.
Was ist los? werde ich gefragt. Warum hast du so lange gebraucht?
Die Großen sitzen inzwischen ganz gemütlich um den Tisch im Esszimmer, sogar Peter ist dabei, er ist schon 17 und tut sich gern ein bisschen wichtig.
Da war so ein Mann, druckse ich herum. Auf dem Fahrrad. Der wollte….
Ich hoffe, du hast dich anständig benommen, fällt mir meine Tante streng ins Wort.
Ich schweige. Dann schaut mich die Mutti ganz lieb an und sagt:
Was war denn mit dem Mann?   Ich sage:
Der wollte mir was Schönes zeigen und dann hab ich gesehen, dass er unten gar nicht richtig angezogen war. Der wollte meine Hand da hintun und dann bin ich schnell weggerannt…..
Alle fangen an, ganz fürchterlich zu lachen.
Du spinnst. Sowas gibt’s überhaupt nicht. Das macht doch niemand; ist ja viel zu kalt. Du hast Quatsch geträumt. Was erzählst du denn da?
Peter lacht am lautesten.
Ich schau die Mutti an und denke: warum glaubt sie mir nicht? So was kann man doch gar nicht erfinden…..auch sie lacht, aber weniger als die anderen.
Irgendwie werde ich traurig und beschließe, nie wieder solche Sachen zu erzählen. Ist ja sinnlos, wenn einem keiner glaubt.
Aber warum hat die Mutti bloß mit gelacht?





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