Jeder hat seine speziellen Lieblingskekse. Dabei müssen wir
abwechselnd meistens helfen: Butter schaumig rühren, mit Guss bestreichen, die
Mandeln mit heißem Wasser übergießen und schälen, später in der Mühle mahlen
oder alle Zutaten in der Schüssel vermengen, noch später dann ausstechen und
was dergleichen Arbeiten mehr sind. Wenn die Mutti dabei ist, singen wir auch
oft mehrstimmig beim Backen und Abwaschen. Zwischendurch muss man ja immer
warten, bis etwas fertig ist und das nächste Blech nachrücken kann. Es ist warm
in der Küche vom Backofen und es riecht ganz herrlich. Ein bisschen fängt
Weihnachten jetzt schon an.
Aber heute werden wir unterbrochen. Ingrid wird in der Küche
gebraucht und ich soll zu Frau Köhler gehen und eine Kanne mit Suppe
hinbringen, die gestern bei uns übrig geblieben ist. Wir haben keine Zeit zum
Ärgern, es ist eilig. Mutti versucht, mir den Auftrag schmackhaft zu machen.
Sie sagt: Du bist ja schon ganze acht
Jahre, Du hast doch keine Angst im Dunkeln. Obwohl ich keineswegs gewöhnt bin,
im Dunkeln allein unterwegs zu sein, stimme ich wild entschlossen zu. Wenn
Mutti mir das zutraut, dann m u s s es einfach gehen. Sie hat dann so etwas in den Augen, als hätte sie
sich noch nie getäuscht – besser: als hätte man sie noch nie enttäuscht. Und
dann will man sie eben auch um keinen Preis enttäuschen. Aber es klappt nicht
immer.
Zieh dich warm an, sagt sie noch und reicht mir die schwere
Milchkanne, in die über 2 Liter reingehen und die ich schon deshalb nicht
leiden kann. Sogar wenn sie leer ist, scheint sie viel schwerer als die andere,
kleinere, die aus Blech. Und die Suppe ist natürlich viel schwerer als die
Milch. Aber die Köhlers haben ja auch zwei Kinder, die beide ein bisschen dick
sind und irgendwas ist mit dem Vater los, was ich nicht genau weiß. Der ist
meistens nicht da oder kommt manchmal unangemeldet und fängt an zu heulen und
auf die Knie zu fallen und zu betteln, dass er wieder in der Hirschstraße bei
allen zuhause sein möchte, aber seine Frau will ihn nicht mehr, weil er nicht
arbeitet und ihr kein Geld gibt und sie mit allen Sorgen sitzen lässt und
manchmal auch gemein zu ihr ist. Manchmal lässt sie ihn aus Mitleid wieder
rein, und dann geht alles von vorne los. Die Großen bei uns sind alle ganz böse
auf ihn und versuchen, der Familie zu helfen. Deshalb kochen sie oft ein bisschen
mehr und jemand muss es hinbringen.
Eigentlich würde ich viel lieber beim Backen helfen, wenn wir
schon mit dem Klavier aufhören müssen – aber da stehe ich schon mit der
schweren Kanne auf der Straße. Den Weg weiß ich, er ist ganz leicht. Einmal
rechts um die Ecke, das ist schon die Hirschstraße, und dann immer geradeaus
bis über die Brücke, und danach kommt schon nach 3 Häusern die Nummer 34, auf
der linken Seite. Und auf dem Rückweg einfach alles umgekehrt: immer geradeaus
und dann bei der Südendstraße nach links bis zu unserem Haus. Kinderspiel!
Die Straßen sind völlig leer. Auch Autos nur ganz selten. So ist es mir sogar lieber. Wenn Fremde etwas
zu mir sagen, weiß ich nie, was ich antworten soll oder was sie erwarten.
Ältere Frauen tun das öfter beim Einkaufen und während ich noch überlege, was
ich sagen kann, werden sie schon ungeduldig oder sogar unfreundlich und denken,
ich bin schlecht erzogen. Dabei weiß ich nur oft nichts mit ihren Fragen
anzufangen. Einmal hat mich eine gefragt:
Ja Kind, dei Händ‘ sin ja ganz rot, hat dir dei Mudder koi Handschuh gebbe??
Irgendwie spürte ich einen Vorwurf gegen meine Mutter und
sagte trotzig: doch, ich hab sie nur vergessen. Aber das war nicht die
Wahrheit. Wir hatten einfach kein Geld für 7 Paar Kinderhandschuhe. Auch noch
für Kinder, die ständig wachsen.
Der Hinweg ist schnell geschafft. Frau Köhler freut sich so
sehr, dass ich mich ein bisschen schäme, als sie sich überschwänglich bedankt.
Natürlich fragt auch sie:
Ist es dir denn nicht zu kalt und hast du keine Angst im
Dunkeln?
Bei ihr weiß ich, dass
sie es freundlich meint.
Überhaupt nicht, sage ich stolz und glaube mir beinahe
selber.
Aber nun kommt der Rückweg. Gleich nach der Brücke ist eine
Stelle, die ich nicht leiden kann, sogar bei Tage. Es gibt da Bäume und
Sträucher unter der Brücke und einen kleinen Weg, der unten und oben verbindet.
Manchmal sind da irgendwelche frechen Bengel, die versuchen, den Mädchen Angst
zu machen. Die sind stärker und tun
immer so, als würden sie einen auslachen – wofür eigentlich? Einfach,
weil man ein Mädchen ist??
Ich will nicht länger darüber nachdenken und lieber schnell
an der blöden Stelle vorbei. Fast ist es
gelungen, da höre ich plötzlich eine tiefe Stimme neben mir:
Wohin gehst du denn so eilig?
Wie aus dem Nichts und lautlos hält ein Mann neben mir auf
seinem Fahrrad. Ach so, denke ich, der fragt sicher gleich nach einer Straße –
hoffentlich weiß ich die überhaupt. Aber er schweigt und schaut mich ganz
merkwürdig an.
Nach Hause, sage ich, und will schnell weiter gehen.
Und wo ist das?
In der Südendstraße.
Hast du keine Angst so allein?
Krampfhaft denke ich darüber nach, warum alle immer fragen, ob
ich keine Angst hätte. Er guckt immer noch ganz komisch.
Nein – sage ich und will mich schnell vorbeidrücken. Aber er
redet weiter und man darf doch nicht unhöflich sein.
Soll ich dir etwas ganz Schönes zeigen?
Warum? Sie kennen mich doch gar nicht.
Gib mir deine Hand, dann zeige ich es dir.
Er nimmt ohne zu warten meine Hand und fängt an, in seiner
Hosentasche zu kramen. Ein eisiger Schreck durchfährt mich. Mit einem halben
Blick sehe ich: Er ist gar nicht richtig angezogen. Seine Jacke und seine Hose
sind offen. Ich denke: Er ist verrückt. Vielleicht ist er krank. Er muss sich
ja totfrieren. Merkt er denn gar nichts?
Ich kann es ihm doch nicht sagen - und überhaupt: Ich soll ja nicht mit
Fremden reden. Aber ich soll auch nicht ungezogen sein – was soll man denn
eigentlich machen, wenn so was Komisches passiert?
Blitzschnell reiße ich meine Hand weg und fange an zu rennen,
und renne und renne, bis ich völlig außer Atem zu Hause ankomme. Einen
Augenblick taucht der Mann noch einmal auf dem Rad neben mir auf und sagt
etwas, aber ich verstehe es nicht, renne nur weiter.
Zu Hause klingle ich Sturm. Erst hinter der schweren Haustür
fühle ich mich sicher.
Was ist los? werde ich gefragt. Warum hast du so lange
gebraucht?
Die Großen sitzen inzwischen ganz gemütlich um den Tisch im
Esszimmer, sogar Peter ist dabei, er ist schon 17 und tut sich gern ein
bisschen wichtig.
Da war so ein Mann, druckse ich herum. Auf dem Fahrrad. Der
wollte….
Ich hoffe, du hast dich anständig benommen, fällt mir meine
Tante streng ins Wort.
Ich schweige. Dann schaut mich die Mutti ganz lieb an und
sagt:
Was war denn mit dem Mann?
Ich sage:
Der wollte mir was Schönes zeigen und dann hab ich gesehen,
dass er unten gar nicht richtig angezogen war. Der wollte meine Hand da hintun
und dann bin ich schnell weggerannt…..
Alle fangen an, ganz fürchterlich zu lachen.
Du spinnst. Sowas gibt’s überhaupt nicht. Das macht doch
niemand; ist ja viel zu kalt. Du hast Quatsch geträumt. Was erzählst du denn
da?
Peter lacht am lautesten.
Ich schau die Mutti an und denke: warum glaubt sie mir nicht?
So was kann man doch gar nicht erfinden…..auch sie lacht, aber weniger als die
anderen.
Irgendwie werde ich traurig und beschließe, nie wieder solche
Sachen zu erzählen. Ist ja sinnlos, wenn einem keiner glaubt.
Aber warum hat die Mutti bloß mit gelacht?
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