Es ist still in dem kleinen, niedrigen Kellerraum,
nur eine schwache Glühbirne brennt. Der vordere Teil ist durch eine quer gespannte
löchrige Wolldecke abgetrennt, im hinteren gibt es alle möglichen
Sitzgelegenheiten: Hocker, Kisten, ausrangierte Stühle. Jetzt hört man
Geräusche und schwaches Gemurmel. Die Eisentür des Luftschutzkellers dreht sich
quietschend in ihren Angeln: müde Menschen schlurfen herein, suchen einen Platz
und setzen sich hin. Sie reden nicht miteinander. Alle scheinen irgendwie alt,
grau, erschöpft, unterernährt, in Decken gehüllt; sie hüsteln und räuspern
sich. In ihren Gesichtern spiegeln sich Reste der Angst, der Kälte, der
Resignation, des Hungers.
Langsam füllen sich die wenigen Reihen, es sind
vielleicht 25-30 Personen. Jemand zündet eine Kerze an und löscht das trübe
Licht. Undenkbar, die Menschen ganz im Dunkeln sitzen zu lassen, nach all dem
Zittern, das sie in diesen lichtlosen, feuchten Verliesen während der
Luftangriffe ausgestanden haben.
Aber dann zieht jemand den Vorhang zurück.
Die Menschen sitzen starr vor Staunen: auf der
kleinen provisorischen Bühne, zum Greifen nah, gibt es ein lebendes Bild. Da
sitzt ein braunlockiges, blühendes junges Mädchen in einem himmelblauen Umhang,
sanft von Kerzen bestrahlt; in ihrem Schoß ein goldblondes Kind, in Lumpen
gewickelt, daneben ein hoch aufgeschossener
Junge mit einer zottigen Decke über den eckigen Schultern, einem viel zu großen
Schlapphut und einem groben Stock in der Hand.
Die Unbekümmertheit dieser Kinder scheint wie von
einem anderen Stern. Nun treten andere, in irgendwelchen Nachthemden als Engel
erkennbar, hinzu und fangen auf ein Zeichen an zu singen.
Sie stimmen die alten, uralten, zweihundert und mehr
Jahre alten vierstimmigen Choräle und Madrigale an, schmettern sie unbekümmert
und glasklar in diesen miefigen, trostlosen Raum, als hätte es keinen Krieg,
keine Bomben und keinen Hunger gegeben, und verstummen irgendwann so plötzlich,
wie sie begonnen haben.
Nun betritt ein älterer Herr die Bühne. Auf seinem
Rücken hat er einen Höcker wie im Märchenbuch die Hexen, aber alle wissen, dass
er die Güte in Person ist. Er sieht würdevoll aus, der Onkel, der uns alle
aufgenommen hat, als unser Vater im Krieg starb, und wie seine eigenen Kinder
groß zieht. Ruhig setzt er sich auf einen Stuhl, nimmt ein Buch zur Hand und
fängt an zu lesen. Er liest langsam und macht viele Pausen und manchmal liest
er gar nicht, sondern schaut ins Publikum und spricht so, als würden ihm diese
feierlichen Worte in diesem Moment gerade einfallen. Es ist die
Weihnachtsgeschichte, wie sie bei Lukas erzählt
wird:
Es begab
sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem
Kaiser
Augustus ausging, dass alle Welt geschätzet würde. Und diese Schätzung war die
allererste und
geschah zu
der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien
war. Und
jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da
machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Davids, die da heißt
Bethlehem, darum dass er aus dem Geschlechte Davids war, mit Maria, seinem
vertrauten Weibe.
Die war
schwanger…
Irgendwann ist die Geschichte zu Ende. Jeder, der
hier
sitzt, kennt sie, viele können sie vielleicht
auswendig, auch wenn hier niemand Kirchgänger ist außer der vertrockneten alten
Hausbesitzerin, von der man meint, sie würde anfangen zu knistern, wenn man sie
berührt. Die grauen und dunklen Köpfe haben sich beim Zuhören geneigt, als
suchten sie in ihren Erinnerungen.
Stille.
Dann plötzlich wieder die strahlenden Stimmen der
Kin-
der: IN DULCI JUBILO…o…o…. Sie stürzen über die
Köpfe der Zuhörer wie eine Lichtorgel. Es gibt drei Strophen, als wollte dieses
Glück nie aufhören, als wären die letzten sechs Jahre nur ein böser Traum
gewesen.
Stille.
Nun erscheint meine Mutter, die all das heimlich mit
den Kindern – in ihren Wintermänteln mit Mützen und Handschuhen und dicken
Socken (soweit vorhanden) – in der Wohnung oben mit den leeren Fensterhöhlen
und dem Eis im Innern des Flügels bei 15 Grad minus einstudiert hat. Sie liest
eine der schönsten deutschen Balladen, von Conrad Ferdinand Meyer, über den
Bruderzwist im Hause Habsburg. Sie heißt: DER GLEITENDE PURPUR.
Es ist Weihnachten, und der rebellische Bruder, der
im Kampf vom rechtmäßigen König besiegt wurde, bittet den anderen öffentlich um
Verzeihung. Vor dem gesamten Hof kniet er in der Kathedrale vor dem Bruder,
abgerissen und zerlumpt, und erwartet sein Urteil. Die Glocken fangen an zu läuten
und wollen nicht mehr aufhören. Da löst der König, der lange schweigend auf ihn
geblickt hat, langsam eine Spange von seinem prächtigen Purpurmantel; der
Mantel gleitet herab und umfließt die Gestalt des reuigen Aufrührers, hinter
dem sich eine lange Schlange von Notleidenden aufgereiht hat, um – wie stets zu
Weihnachten – beschenkt zu werden.
Sie sehen ungefähr aus wie unser Publikum im Keller.
Eia Weihnacht – eia Weihnacht…
UND DER ERSTE BETTLER STEHT BEKLEIDET……
Ein letztes Mal die jubelnden Kinderstimmen. Es ist,
als hätten sich die Menschen in der Ballade mit denen hier im Keller vereinigt.
Alle fallen mit ein….
WELT GING VERLOREN…
CHRIST IST GEBOREN
Es ist ihre eigene Geschichte, die
hier verhandelt wird, so spüren sie bestürzt. Nichts hat sich wirklich geändert
seit zweitausend oder tausend Jahren. Ihre Augen sind nass – worüber? Ihr Unglück…
ihre Verluste… vielleicht auch ihre Schuld?
Da, mitten in die letzten Klänge
ertönt ein verstörtes Stimmchen: das Jesuskind! Stoisch hat es die ganze Feier
über im Schoß der Maria gelegen. Aber nun versteht es die Welt nicht mehr.
Warum weinen plötzlich alle? Hat man ihm nicht erzählt, dass Weihnachten ein
Tag ist, an dem sich alle freuen?
„Mutti!... Mutti… bitte Kuss!“
Der ganze Keller bricht in
befreites Gelächter aus. Die Situation ist gerettet. Jetzt ist wirklich
Weihnachten. Das Jesuskind bekommt seinen Kuss, es gibt irgendetwas Kärgliches
zu essen, das die Erwachsenen zusammengetragen haben, niemand weiß, woher. Den
Kindern schmeckt es herrlich. Blasser, fast farbloser Tee wird ausgeschenkt.
Allgemeines Gemurmel
Das Jesuskind war i c h
- damals drei Jahre alt.
3 Kommentare:
sehr schoene und beruehrende Geschichte,
Was für Weihnachten im Vergleich zu heute. Und das schönste Geschenk in der Geschichte ist doch "Jesuskindleins" Ruf nach dem Kuss der Mutti angesichts der vielen Tränen. Ein Geschenk auch für die Leserin der kleinen neuen Weihnachtsgeschichte. Gruß aus Tel Aviv
eine wunderschöne tröstliche Geschichte. Es geht aber nicht um Habsburg, sondern um die Ottonen, Kaiser Otto und seinen Bruder Heinrich
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