Es ist ziemlich leicht, sich ungesehen aus der Wohnung zu schleichen.
Die
Erwachsenen sitzen im Wohnzimmer und unterhalten sich, die Geschwister kümmern sich sowieso nicht um die Piepse, wie sie die Kleinen nennen. Jedenfalls nicht am Abend, da will jeder seine Ruhe haben. Irgendwann nimmt man an, sie sind längst im Bett.
Erwachsenen sitzen im Wohnzimmer und unterhalten sich, die Geschwister kümmern sich sowieso nicht um die Piepse, wie sie die Kleinen nennen. Jedenfalls nicht am Abend, da will jeder seine Ruhe haben. Irgendwann nimmt man an, sie sind längst im Bett.
Aber Ole hat große Pläne. Er hat sich Geld beschafft und will
unbedingt einen bestimmten Film sehen. Einen mit Frank Sinatra. Keine Ahnung, denkt
Lene, wer oder was das ist, aber irgendwas
mit Krieg. Natürlich sind sie noch nicht alt genug für diesen Film, das ist
besonders verlockend, jedenfalls für Ole. Der kriegt es auch irgendwie hin,
dass sie sich rein mogeln können. Lene weiß nicht, was sie davon halten soll.
Ich geh nur mit, wenn nicht so viel geschossen wird, sagt sie ängstlich und
weiß schon, dass sie nachgeben wird. Heimlich ist sie stolz, dass er sie
unbedingt mitnehmen will, aber das sagt sie ihm nicht. Ich schau dann eben weg,
wenn es zu schlimm wird, denkt sie und ahnt, dass sie wieder ganz schrecklich vom Krieg träumen wird. Manchmal
soll sie in diesen Träumen von irgendwelchen Soldaten erschossen werden.
Das mit dem Geld ist ihr auch unheimlich. Der Bruder nimmt es
manchmal aus der Jacke des Onkels, die der einfach im Bad hängen lässt. Immer
hat er loses Geld in der Tasche, das weiß jeder. Wieso merkt er überhaupt
nichts? Er muss doch sehen, dass es
weniger ist. Aber wenn es rauskommt, denkt Lene, dann gibt’s Haue
–wahrscheinlich von der Tante; und Mutti
schaut dann wieder so merkwürdig zur Seite, als ginge es gar nicht um ihre
Kinder. Lene fühlt sich unbehaglich.
Aber als sie erst mal auf der Straße sind, spürt sie Oles
Aufregung und wird angesteckt. Für das Heimkommen ist alles geregelt. Das kleine
Fenster im Klo, durch das sie beide gerade noch durch passen, ist wie immer
angelehnt. Normalerweise macht es keiner zu. Dann müssen sie nur unten bei
irgendjemand klingeln, damit der elektrische Öffner für die Haustür angestellt
wird. Dann einfach leise reinlaufen und bis einen Stock höher als die
Wohnungstür. Wenn man das über der Wohnung liegende Fenster zum Hof im
Treppenhaus öffnet, kann man sich im rechten Winkel dazu auf das Fensterbrett
des Klofensters herunterlassen. Man muss sich nur gut am Fensterrahmen festhalten,
damit man nicht abrutscht, denn es geht vier Stockwerke nach unten. Lene hat
dann die Aufgabe, die Handgelenke des Bruders so fest wie möglich zu halten,
bis er mit den Zehenspitzen das Sims erreicht.
Dann muss er ganz vorsichtig in die Hocke gehen, sich oben und unten
gleichzeitig festhalten, das Klofenster weiter öffnen, reinschlüpfen und leise
zur Wohnungstür schleichen, um sie für Lene zu öffnen. Und dann blitzschnell ab
ins Bett. Zwei-dreimal hat es so schon prima geklappt. Niemand hat was gemerkt.
Sie haben ‚Der rote Korsar‘ gesehen (sie weiß jetzt, was ein Freibeuter ist)
und ‚Verdammt in alle Ewigkeit‘. Danach hat sie angefangen, so scheußlich zu
träumen, immer von Soldaten und Schießen und zusammenbrechenden Häusern und von Leuten, die sterben oder schwer verletzt
werden und wahnsinnig tapfer sind. Aber die Filme mit Schiffen und Segeln und
Freibeutern gefallen ihr viel besser.
Heute Abend muss sie wieder oft wegschauen und ihr Herz
schlägt wahnsinnig laut. Warum bringt sie nicht fertig, ihm zu sagen, dass sie
das nicht mehr will? Dumpf ahnt sie, dass er ohne sie nicht alle
Schwierigkeiten bewältigen kann. Aber immer wieder treibt es ihn im Dunkeln
raus und in solche Filme. Ich wette, er hat genau so Angst wie ich, denkt Lene.
Er zeigt es bloß nicht.
Wieder sind sie irgendwie in den dunklen Kinosaal
geschlichen, ohne dass jemand fragt, wie alt sie sind. Lene ist erst elf, sieht
aber etwas älter aus, sagen viele. Ole ist dreizehneinhalb. Aber erlaubt sind
alle diese Filme erst ab sechzehn. Dann ist es so spannend, dass sie heiße
Gesichter und feuchte Hände kriegen. Alles versteht Lene nicht, vor allem, wenn
Frauen dazu kommen, aber sie weiß schon, wenn die Frauen da sind, wird meistens
nicht geschossen. Morgen wird Ole vom Rest des Geldes kleine Pistolen und
Zündblättchen kaufen und sie muss auf dem Feld am Stadtrand mit ihm wieder Krieg
spielen. Aber er bettelt immer so lange, bis sie mitmacht.
Auf dem Heimweg sind sie schweigsam und denken an das
Klofenster. Plötzlich schrecken sie hoch, als eine tiefe Stimme sagt: Na, was
macht
I h r denn so spät
noch unterwegs? So ein Mist! Ausgerechnet der Religionslehrer, den sie
eigentlich mögen, muss ihnen in die Quere kommen. Und schon fragt er besorgt
weiter: Wissen denn eure Eltern, dass ihr jetzt
noch auf der Straße seid? Zu ihrem maßlosen Erstaunen hört sie Ole
sagen: Jaja, wir sollen noch eine Besorgung für den Onkel machen. Jetzt
bewundert sie ihn richtig. Aber ein schlechtes Gewissen hat sie doch. Wenn Herr
Hohn nun anruft und die Eltern fragt? Nicht auszudenken…… . Sie beeilen sich
heimzukommen, sind schon schweißgebadet. Der Trick mit der Haustür klappt wie
immer. So schnell wie möglich schleichen sie die 4 Treppen hoch und öffnen das
Fenster zum Hof. Zuvor haben sie an der Wohnungstür gelauscht. Alles ist still.
Aber als sie runter schauen, können sie nicht genau sehen, ob das Fenster immer
noch angelehnt ist. Es gibt zu wenig Licht und eine Taschenlampe haben sie
nicht.
Ich glaub, es ist nur näher angelehnt, sagt Ole, und steigt
entschlossen aufs Fenstersims, um sich dann ganz langsam runterzulassen.
Unvorstellbar, an der Tür zu klingeln. Alles würde auffliegen. Halt mich so
fest Du kannst, befiehlt er, und Lene hört die Angst in seiner Stimme. Sie
spürt, dass seine Hände klatschnass vor Aufregung sind. Dann hört sie das
Scharren seiner Fußspitzen an der Hauswand. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern,
bis er auf dem unteren Sims steht – sie kann ihn nur noch halten, wenn sie sich
ganz weit aus dem Fenster lehnt. Einmal verliert sie beinahe den Boden unter
den Füßen und fühlt sich plötzlich federleicht. Wenn er jetzt nicht mit den
Füßen ankommt, reißt er mich mit, denkt sie in Panik, und wir fallen beide
runter – aber da hört sie ihn flüstern: es ist offen, aber sie haben es ganz
fest angelehnt, ich dachte schon, ich komm nicht rein.
Ihr ist, als könnte
man den Stein hören, der ihr vom Herzen fällt. Nach einer Minute öffnet Ole
lautlos die Wohnungstür und zieht sie rein. In Sekundenschnelle sind sie in
ihrem Zimmer und im Bett.
Aber sie hat das Gefühl, ihr Herz schlägt noch stundenlang bis zum Hals und schwört sich,
das nie wieder zu machen.
Wie jedes Mal.
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