Das kleine Mädchen ist ins Spiel
vertieft. Es ist ganz bei sich und wie in einen Kokon aus Watte gesponnen. Das
geht nicht anders in dieser Familie. Wenn sieben Kinder durcheinander laufen
und drei Erwachsene ihren eigenen Angelegenheiten nachgehen, muss man es
schaffen, sich nicht stören zu lassen. Sonst wird dieses Haus nie fertig gebaut
und dieses Gehege für die kleinen Holztiere, die sich ja sonst verirren
können. Geräusche lassen sich leicht
ausblenden. Die Kleine arbeitet konzentriert.
Da dringt Muttis Stimme an ihr Ohr,
leise aber beharrlich. Gleich schließen die Läden und sie soll noch schnell im
Laden auf der anderen Straßenseite etwas einkaufen. Das Mädchen denkt:
<Warum i c h? Immer
i c h! Gerade jetzt, wo ich so schön spiele.
Können doch die anderen. Warum gerade
heute! >
Sie hat das Gefühl, noch nie so
wunderbar gespielt zu haben. Die Welt um
sie versinkt. Doch die Minuten verrinnen und die mahnende Stimme nähert sich
ein zweites Mal.
<Wenn du nicht sofort gehst, ist
es zu spät.>
Das Mädchen hasst es einzukaufen. Immer wird man da Dinge
gefragt, auf die sie keine Antworten weiß. Dann geniert sie sich und ärgert sich
zugleich. Aber die Mutti ist immer ruhig und lieb. Wahrscheinlich ist sie
traurig, wenn sie jetzt nicht geht. Und da ist ja auch noch die Tante. Die wird
nicht traurig, sondern wütend. Dann schimpft sie und kriegt ganz schlechte
Laune.
Die Minuten verrinnen. Es ist so
schwierig, alle diese Dinge zu bedenken und sich dann zu entschließen. Mühsam
formt sich der Wille, sich von den Tieren zu trennen. Das Mädchen steht langsam
auf, wie in Zeitlupe. Noch immer kämpft sie mit sich. Aber halb kann sie sich
vorstellen, jetzt rüberzugehen. Vier Treppen runter, über die Straße, in den
Laden, dann einkaufen, wieder über die Straße, vier Treppen hoch. Unbestimmt
spürt sie, dass die Zeit ihr davonläuft. Aber sie kann nicht schneller.
Da ist plötzlich wieder die Stimme
der Mutti, diesmal sehr ernst:
<Du hast es also geschafft. Jetzt
ist es schon zu spät zum Einkaufen. Da du nicht imstande bist, einfach mal zu
gehorchen, wenn es nötig ist, und diesen kleinen Auftrag auszuführen, werde ich
Dich die nächsten zwei Wochen so wenig beachten, wie Du meine Bitte beachtet
hast. >
Sie geht.
Das Mädchen ist wie vom Donner
gerührt. Wollte sie nicht eben ganz brav alles tun, was von ihr verlangt wurde?
Ist es ihre Schuld, dass der blöde Laden so pünktlich zumacht? In ihr prallen Wut
und Scham aufeinander. Sie kann sich
überhaupt nicht vorstellen, wie das sein soll, wenn die Mutti sie nicht
beachtet. Wer soll denn dann vor der Schule ihre Zöpfe flechten und wer ihre
Sachen raus legen?
Aber am nächsten Morgen hat sich die
Welt verdüstert. Während die anderen sich anziehen, schlüpft sie allein in ihre
alten Kleider, die sie sowieso immer eine ganze Woche tragen muss. Die Mutti
ist ruhig und freundlich wie immer, aber
die kleine Tochter wird völlig
übersehen. Sie spricht mit den anderen, aber nicht mit ihr. Sie schaut die
anderen an, aber niemals sie. In der Not geht sie mit den Zöpfen vom Vortag in
die Schule, vielleicht merkt es ja keiner. Frühstück gibt es sowieso nicht in
dieser Familie, dazu fehlt das Geld. Vielleicht ist beim Mittagessen wieder
alles in Ordnung?
Nichts ist in Ordnung. Die Mutti ist zu allen
anderen wie immer, aber sie wird nicht
angeguckt. Alle erzählen von ihren
Erlebnissen, aber s i e fragt keiner und sie kriegt auch den Mund nicht auf.
Niemand hindert sie am Essen, aber es schmeckt ihr überhaupt nicht. Die Brüder
kriegen kleine Aufträge, aber niemand fragt sie. Wie Luft fühlt sie sich
behandelt. Das Mädchen nimmt sich vor, die ganze Nacht nicht zu schlafen und
nur richtig wütend zu sein. Sie hat schon einmal gemerkt, dass man zwar wütend
ins Bett gehen kann, aber am nächsten Morgen ist alles wie weggeblasen. Jetzt
will sie ihren Trotz aufbewahren, bis die Mutti wieder lieb mit ihr ist. Wie
lang sind überhaupt 2 Wochen? Krampfhaft versucht sie am Abend wach
zu bleiben. Aber am Morgen merkt sie, dass sie fest geschlafen hat, und wieder
sucht sie vergeblich nach ihrem verlorenen Zorn.
Langsam macht sich Trauer in ihr
breit. Die Geschwister reden zwar mit ihr, aber irgendwie nur das Nötigste.
Zwar versucht die Cousine, ihr ein bisschen beim Kämmen zu helfen, aber das ist
ihr schon beinahe egal. Niemand spricht mit ihr über das, was geschehen ist. So
vergehen die Tage. In der Schule gibt es soviel Unordnung und Durcheinander,
dass sie nicht besonders auffällt. Der Unterricht macht ihr keine Mühe, aber
wozu das alles, wenn man nicht der Mutti davon erzählen kann? Die ist ruhig und
freundlich und behandelt sie weiter wie Luft.
Das Mädchen vergießt keine Träne.
Bloß keine Schwäche zeigen, denkt sie. Niemand soll sehen, wie traurig ich bin.
Die Brüder haben ihr beigebracht, dass man sich abhärten muss. Einmal ist sie
einen ganzen Winter nur mit Kniestrümpfen gelaufen, obwohl es bitter kalt war,
nur um zu zeigen, dass sie das aushalten kann. Wenn ihre Schenkel knallrot
gefroren waren, lachte sie bloß. Und beim Ohrenarzt beißt sie krampfhaft die
Zähne aufeinander, wenn es weh tut, die sollen nicht sehen, dass sie schreien
will. Als sie beim Schulausflug sich das Knie verletzt, stehen alle mit offenem
Mund um sie herum und sagen:
< Warum weinst du nicht, dass muss
doch schrecklich wehtun? >
Sie schweigt.
Aber das hier ist etwas ganz anderes.
Als wäre sie in einem anderen Land. Sie sieht nicht mehr, wie das Wetter ist,
sie hört nicht, was die anderen erzählen. Sie muss nachdenken. Etwas muss
geschehen. Lange kann sie so nicht mehr weiter machen - das sagen jetzt
manchmal auch die Geschwister. Sie soll sich entschuldigen. ENTSCHULDIGEN. Gibt
es etwas Schlimmeres? Sie wird tot umfallen vor Scham. Wieder vergehen Tage.
Allmählich fühlt sie sich verwahrlost. Einsam. Verstoßen. Schmutzig. Die Geschwister raten:
<Geh einfach zu Mutti und sag: Ich
will wieder lieb sein.>
Leicht gesagt. Sie denkt es ja
längst, bis ans Lebensende will sie lieb sein. Aller Trotz ist verflogen. Aber der
eigenen Stimme zuhören, wenn sie das sagt: kann man das aushalten?
Drei Tage, bevor die 2 Wochen um
sind, gelingt es schließlich in einem Augenblick, wo sie ohne Nachdenken ganz
schnell diesen Satz sagt:
<Ich will wieder lieb sein.>
Aber eigentlich will sie sagen: <Ich
will wieder lieb gehabt werden. Ich kann nicht ertragen, wenn du an mir vorbei
siehst, ich will, dass Du mit mir redest, ich will dir erzählen, was in der
Schule passiert, ich will, dass du mich anlächelst und auf dem Balkon stehst,
wenn ich in die Schule gehe, und ich dir winken kann. Ich will, dass alles ist
wie früher.>
Die Mutti macht es ihr leicht, als
hätte sie lange auf den Satz gewartet. Scheinbar ist nun alles wie früher. Aber
das Mädchen vergisst nicht, wie es sich anfühlt, wenn man fremd in der eigenen
Familie ist. Heimlich ist sie den Geschwistern dankbar, dass sie sie getrieben
haben, den schrecklichen Satz zu sagen. Sie beschließt, nie wieder ‚böse‘ zu
sein.
Aber dunkel ahnt sie, dass es nicht gelingen wird.
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