Ilka wartet. Die Zeit wird ihr nicht
lang. Gemächlich schlendert sie auf der Straße herum und achtet darauf, den
Hauseingang im Blick zu behalten. Es ist Vormittag und nicht viel los draußen.
Vor kurzem war ihr siebter Geburtstag; seitdem darf sie auch ohne Geschwister
auf die Straße zum Spielen. Ist ja eh nicht viel los. Die wenigen Autos fahren
ganz langsam. Manchmal schiebt der Lumpensammler seinen Karren durch die Straße
oder ein Scherenschleifer preist laut rufend seine Dienste an. Viel zu selten
taucht der große Pferdewagen aus der Brauerei auf, dessen Kutscher sie kennt
und der sie manchmal auf dem Kutschbock mitfahren lässt. Sogar die Zügel darf
sie schon mal kurz nehmen. Ilka liebt Pferde, und dieses eine, den Fridon, der
immer in ihrer Straße auftaucht, wenn irgendwo
Bier, Sprudel und die großen langen Eisstangen ausgeliefert werden, hat
sie besonders gern. Ein Kaltblütler, hat ihr der Kutscher verraten. Er ist groß
und stark und hat dicke Beine. Besorgt schaut Ilka an sich herunter: Sie ist
auch groß und stark und die Brüder sagen ihr manchmal: krieg bloß keine dicken
Beine! Wieso, hat sie gedacht – was ist falsch daran? Darauf steht man doch
umso fester auf dem Boden. Was die immer reden.
Sie hat einen Ball mitgenommen, aber
sie spielt nicht damit. Sie muss nachdenken. Die Sonne scheint. Ihr fällt ein,
dass sie unlängst, am Morgen dieses Geburtstags, plötzlich ein neues, ungewohntes Gefühl hatte.
Dieses vergangene siebte Jahr, so schien ihr, war das längste in ihrem
bisherigen Leben. Die anderen haben sie natürlich ausgelacht, als sie das
sagte, und erklärten altklug, dass jedes Jahr gleich lang wie das andere sei.
Aber sie wusste genau, was sie fühlte und beschloss umgehend, nicht mehr so
viel zu erzählen. Wozu, wenn die ‚Großen‘ so dumm waren? Nie war sie sich so
sicher wie in diesem Augenblick, dass sie etwas Richtiges fühlte: In diesem
siebten Jahr waren so viele wichtige
Sachen passiert.
Sie hat das Gefühl, dass die Welt
durchsichtig geworden ist, dass sie wie in einem Glashaus durch mehrere
Schichten hindurchschauen kann. Nicht immer natürlich, aber immer öfter. So
viele merkwürdigen Erfahrungen und
Begegnungen. Nicht alles hat sie verstanden, und längst nicht immer hat sie
gefragt, wenn sie etwas nicht verstand. Sie ist zu schüchtern und erschrickt
immer mal wieder, wenn sie ihre eigene Stimme hört. Da war vor wenigen Wochen diese
Weihnachtsfeier im Kindergottesdienst. Ilka war ganz stolz, dass sie mitmachen
durfte, obwohl sie gar nicht regelmäßig dabei war. Sie kam nur, wenn sie
wusste, dass die Frau, die so spannend die biblischen Geschichten erzählen konnte,
dass man dachte, sie wäre selbst dabei gewesen. Die anderen waren langweilig.
Manchmal ärgerte sie sich, wenn die Langweiler zu oft dran waren. Die
Geschichten gefielen ihr. Aber sie fingen erst an zu leben, wenn sie richtig
erzählt wurden.
Und nun war sie gefragt worden, ob
sie bei der Weihnachtsfeier in der
Kirche mit all den Erwachsenen, die zuhörten und zuschauten, mitmachen wolle.
Natürlich wollte sie, obwohl sie gleich einen Schreck bekam. Vielleicht würde
ihr vor Aufregung die Stimme wegbleiben? Oder sie würde ihren Text vergessen?
Oder stottern – obwohl sie genau wusste, dass sie gut auswendig lernen konnte.
Alle Kinder sollten sich als Engel
verkleiden und mit Kerzen in der Hand vor dem Altar ihr Verse oder Texte
aufsagen. Es war sehr feierlich. Ilka hatte ein schönes Nachthemd von ihrer
Cousine anziehen dürfen, das reichte bis auf den Boden. So etwas Tolles hatte
sie selber nicht, ganz feierlich fühlte sie sich. Als sie vor dem Spiegel
stand, fand sie sich schön. Sah sie nicht wirklich ein bisschen engelhaft aus?
Mit diesem Gewand wie auf alten Bildern und den langen blonden Haaren? Jetzt fing
die Orgel an und die Kinder mussten auf ihren Einsatz warten. Sie kam als eine
der letzten dran, also konnte sie in aller Ruhe noch die anderen bewundern.
Alle waren so schön. Die Musik machte etwas mit ihr, was sie nicht verstand.
Etwas in ihr fing an zu fließen und machte ihr inwendig warm. Wie zart und
leise die Stimmen der anderen waren, wie von weither. Und niemand blieb
stecken. Die Zuschauer waren mucksmäuschenstill, als hätten sie alle denselben
Atem. Es gefällt ihnen, dachte Ilka. Gleich komme ich auch dran. Einen
Augenblick fühlt sie ein Glücksgefühl in sich aufsteigen, wie sie es noch nie
erlebt hatte.
Dann fing sie an, ihren Text
aufzusagen. Ich muss laut und deutlich sprechen, dachte sie – so haben alle
gesagt. Und laut und deutlich sprach sie die fremden Worte mit ihrer tiefen
Stimme, von der die Mutti immer lächelnd sagte, schon bei ihrer Geburt hätten
die Ärzte und Krankenschwestern erstaunt gelacht, weil alle anderen Babies eine
Oktave höher schrien,: ‚…und er heißt wunderbar, Heiland, Held, Kraft, Freudebringer,
Friedefürst…..‘ - sie hält plötzlich inne, ein Aufruhr ist
entstanden, es wird immer lauter – Ilka ist verwirrt und versteht nicht. Und
dann hört sie es ganz deutlich: alle diese Leute lachen, lachen aus vollem Halse,
reden miteinander, rufen sich irgendetwas zu, hören gar nicht mehr auf. Ja,
darf man denn in der Kirche lachen und schwätzen? Ist den Kindern das nicht
immer verboten worden? Und jetzt tun es die Erwachsenen selber! Was um Himmels
willen soll sie jetzt tun? Was ist überhaupt los?
Verzweifelt besinnt sie sich auf ihre
Aufgabe. Dann holt sie tief Luft und fährt trotzig, viel lauter als zuvor, mit
ihrem Text fort. Zugleich schlägt ein glühendes Schamgefühl über ihr zusammen.
Obwohl sie nur ein dünnes Nachthemd anhat, fängt sie an zu schwitzen. Sie fühlt
sich nackt, als könnte man durch das Hemd hindurchsehen. Alle glotzen sie an
und lachen. Sogar der Pfarrer –
Ilka weiß nicht mehr, wie sie nach
Hause gekommen ist. Die Mutti hat sie irgendwann in den Arm genommen, aber nie,
nie kann sie vergessen, wie sich das Gefühl, anders zu sein, in sie einbrannte.
Allerdings - die Mutti hat gesagt, ihre tiefe Stimme sei
etwas Besonders und sie solle sich darüber freuen. Die hat gut reden, denkt
Ilka und verliert sich immer weiter in ihren Gedanken.
Jetzt hört sie Schritte. Das muss er
sein. Er kommt immer um diese Zeit. Sie schaut hoch und alle Schatten weichen zurück. Er ist in einer blauen Uniform mit Schirmmütze und einem hellen Hemd
darunter, das am Kragen offen steht. Über der Schulter ein breiter Lederriemen,
um die schwere Umhängetasche mit all den Briefen und Zeitschriften besser
tragen zu können. Wie sie ihn anschaut, wird ihr mit einem Mal ganz federleicht
ums Herz. Seine blauen Augen in dem braungebrannten Gesicht strahlen, die
dunklen Brauen mit dem dichten, braunen Haar darüber und dieser merkwürdige
Mund, wie in Wachs geschnitten, machen sie fast schwindlig. Er lacht sie an und
fragt leichthin: Na, wartest du auf m i
c h? Ja, sagt sie einfach und denkt glücklich: Er hat ja a u c h
eine ganz tiefe Stimme – warum ist mir das noch nie aufgefallen?
Ich geh mal nach oben, sagt er. Ist
jemand zu Haus? Ja, sagt sie wieder und
ist ganz versunken ins Anschauen. Na,
dann geh ich mal rauf, sagt er.
Sie schaut ihm nach und weiß, dass er
gleich wieder kommt. Da ist es wieder, dieses heimliche Glücksgefühl, das sie
sich nicht erklären kann. Die Zeit hört auf zu laufen. Irgendwann ist er
plötzlich wieder da. Ohne etwas zu sagen, nimmt sie seine Hand und geht mit ihm
mit. Auch er schweigt. Alles ist klar. So gehen sie ziemlich lange. Sie sieht
die Straßen an sich vorbeiziehen, erkennt sie wieder, vergisst sie wieder, ist
nur mit Glücklichsein beschäftigt. Plötzlich hört sie seine Stimme. Er sagt:
Weißt du denn schon den ganzen Weg
zurück? Wir sind ja schon weit weg von euch? Sie überlegt keinen Augenblick:
Aber ich gehe nicht zurück. Ich gehe mit Dir.
Ich will bei dir bleiben.
Sein Gesicht ist ganz ernst:
Aber du musst doch in die Schule
gehen.
Das ist egal. Können wir nicht
heiraten?
Eine Weile sagen sie beide
nichts. Dann antwortet er ruhig:
Das ist schön, dass du so viel
Vertrauen zu mir hast. Ich hab dich auch sehr gern. Aber schau, du bist noch
sehr, sehr jung und musst noch ein bisschen älter werden. Und du weißt ja, ich
komme jeden Tag und wir werden gute Freunde sein. Denk nur, wie traurig deine
Mutti wäre, wenn du jetzt einfach weggehst und nicht wieder kommst. Wir warten
einfach noch eine Weile und freuen uns, wenn wir uns sehen.
Ilka denkt angestrengt
nach. Wahrscheinlich hat er Recht. An die Mutti hat sie gar nicht mehr gedacht.
Aber die darf man nicht traurig machen. Das wäre unerträglich. Und er kommt ja
wirklich immer wieder….
Also, dann geh ich jetzt nach Haus,
sagt sie plötzlich erleichtert. Tschüs, bis morgen!
Fröhlich hüpft sie davon
und freut sich auf die Mama und den nächsten Tag. So geht es eine lange Zeit.
Einmal fällt ihr auf, dass schon
lange ein anderer Briefträger zu ihnen kommt. Wo ist Arthur? fragt sie ihn. Er
zuckt die Achseln. Weiß nicht, sagt er, vielleicht im Urlaub oder in einem
anderen Bezirk. Sie hört gar nicht genau hin. Sie weiß ja, dass er auf sie
wartet, das hat er versprochen.
In dieser Zuversicht
verliert sie ihn ganz langsam aus dem
Gedächtnis.
1 Kommentar:
Wäre super interesssant zu wissen, ob der 'Erwählte' im Alter auch noch diesen schmeichelhaften Antrag erinnerte und vor allem seine eigene, zartfühlende Antwort.
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