Sie sitzt und schweigt. Auf der
grauen Resopalplatte des Küchentischs
steht eine Flasche, ihr Inhalt von einem trägen Gelb. Ilka, grundsätzlich an
allem Ess- und Trinkbaren hoch interessiert, hat sie vorher noch nie gesehen.
Aber etwas stimmt nicht. Warum schaut die Mutti immer zur Seite und lässt die
Tante reden? Die Tante, vor der sie immer ein bisschen Angst hat? Sie ist 6
Jahre älter als die Mutti und schwer zufrieden zu stellen. Ilka überlegt, wann
sie die Tante zuletzt vergnügt gesehen hat. Es fällt ihr nicht ein.
Die Tante war Krankenschwester, als
sie jung war. Ilka kann sich nicht vorstellen, wie sie war. Mutti, ja die ist
immer jung, trotz der paar grauen Haare. Wenn sie lacht, kommt kein Mensch auf
die Idee, dass sie schon viele Kinder hat, alle älter als Ilka. Sie lacht oft,
und dann wird alles Schwierige plötzlich einfach. Aber jetzt lacht sie nicht.
Die Flasche wird Ilka unheimlich.
Dann fängt die Tante an zu reden. Ob auch die Erwachsenen ihr Leben lang den
älteren Geschwistern gehorchen müssen, fragt sich Ilka? Sie hört schon an der
Stimme, dass etwas Drohendes in der Luft hängt. Einzelne Worte schwirren ihr
durch den Kopf: teuer - schwierig zu bekommen -
gesund - tägliche Vitamine (was ist das?) - Dankbarkeit
- Gehorsam….. es sind lauter
Worte, die sie von Mutti nie hört.
Die Tante dreht den Deckel von der
Flasche und gießt einen großen silbernen Löffel randvoll.
<Na, los! Sperr deinen Schnabel
auf! Ich hab nicht stundenlang Zeit.>
Von dem Löffel strömt ein fischiger,
ekliger Geruch, wie ranziges Öl. Ilka weiß, dass in ihrer Familie nie etwas
weggeschmissen wird, auch wenn es schon alt ist und grässlich riecht. Sie kennt
schimmliges Brot und Marmeladengläser aus dem Keller, mit weißen Flecken auf
der Oberfläche, die vor dem Essen entfernt werden müssen. Sie selber hat sogar
schon die hauchdünnen Schalen von Pellkartoffeln aus dem Mülleimer geholt und
gegessen.
Bevor sie Zeit hat, länger
nachzudenken, drückt ihr die Tante plötzlich die Nase zu und gießt, als sie den
Mund unwillkürlich öffnet, das gelbe Zeug in ihren Mund. Ilka schnappt nach
Luft und will schreien, es ist, als würde sie in Öl ertrinken, sie würgt und
hustet und spürt, wie dieses widerliche Zeug sich in ihr ausbreitet – es ist,
als könnte nie wieder etwas anders schmecken.
<Hab dich nicht so!>
sagt die Tante und füllt den Löffel
erneut. Ilkas Blick irrt verzweifelt zu Mutti und endlich, endlich sagt die
etwas:
<Wir können ihr ja ein Stückchen
Brot geben, damit es leichter geht.>
Wie durch ein Wunder lenkt die Tante
ein.
<Meinetwegen!>
Ilka spürt das Brot auf der Zunge,
kaut und übergibt sich in hohem Bogen auf den Küchentisch – es ist wie eine
Explosion, die von ganz tief unten kommt. Sie sieht die Augen der Tante: Die
sind auf einmal ganz schmal und so gelb, als würde der ekelhafte Lebertran
direkt aus ihnen herausspritzen.
<Du isst jetzt sofort das
Ausgespuckte noch mal, mitsamt dem kostbaren Brot! Was glaubst du denn, wie du
dich hier aufführen kannst? Na, los! Wird’s bald?>
Mutti schweigt. Die Tante verlässt
türenknallend die Küche. Ilka wird schwarz vor den Augen.
2 Kommentare:
Was für eine Skala der Erschütterungen - bei allen drei Personen! Wieviele mögen Ähnliches erlebt haben und heute noch erinnern? Und alle versuchen, es richtig zu machen, auf ihre je eigene Weise. Man möchte weinen über diese scheinbar geringfügigen Schattierungen des Unglücks, das aus dem Krieg erwächst und in dem jeder sich von sich selber entfernt.
Welche Verzweiflung bei allen drei weiblichen Wesen! Das Kind soll etwas "Gutes" bekommen, was ihm aber nicht bekommt. Die Mutter möchte das Schlucken des Lebertrans ihrem Kind ersparen und dann mit Brot abmildern, traut sich aber auch nicht zu widersprechen. Die Tante ist überzeugt, dass sie dem Kind etwas Gutes tut, auch hat sie dafür Persönliches geopfert (Geld und Mühe).
Der Gipfel ist aber, dass die Tante verlangt, dass das Erbrochene nochmal gegessen wird! Das ist hart, gefühllos und böse!
Diese Tante wäre für mich "gestorben"!
Kommentar veröffentlichen