'Rabenkinderjahre' ist eine Reihe von inhaltlich zusammenhängenden Erzählungen über das Heranwachsen in der Nachkriegszeit. Ca. alle 10 Tage werden neue Texte hinzugefügt. Durch Anklicken der Titel jeweils auf der linken Seite gelangt man zur gewünschten Geschichte.
Vorworte
Raben sind geheimnisvoll. Seit ich als kleines Mädchen gelesen habe, dass zwei von ihnen dem germanischen Göttervater ODIN immer auf den Schultern sitzen, wenn sie nicht gerade Erkundungsflüge machen, der eine rechts, der andere links, und ihm alles, was sie in der Menschenwelt beobachten, ins Ohr krächzen, womöglich auch noch ihre weisen Kommentare dazu, habe ich tiefen Respekt vor ihnen. Aber man sieht sie hierzulande kaum noch. Jedenfalls nicht in so beeindruckender, wenngleich tief melancholischer Majestät wie die berühmten Kolkraben am britischen Tower. Hat man je einen von ihnen fliegen sehen? Hat man ihnen etwa die Flügel beschnitten? Sie schauen einen so abgrundtief traurig an wie die Menschenaffen im Zoo. Ich schäme mich, als ich sie zum ersten Mal sehe. Ich schäme mich, einer Spezies anzugehören, die das Große, Unerklärliche, über uns selbst Hinausweisende nicht achten kann, nur besitzen will. So erschaffen wir uns Spiegelbilder unseres brüchigen Selbst.
Odins Raben waren frei. Wenn sie fortflogen, vertraute er
ihnen, dass sie Gründe hatten. Er wollte ja wissen, was die Menschen bewegt,
wozu sie sich hinreißen lassen. A l l e
s wollte er wissen, der Allwissende, und
alles erzählten sie ihm, ohne Gewichtung, ohne Vor – Auswahl, ohne Bewertung,
das Schaudererregende und das Sublime, Schöne.
Ich weiß nicht, warum die Raben in Misskredit geraten sind. Nur,
dass sie offenbar sehr alt werden, ruft noch ein bisschen Respekt hervor. Aber
eben deshalb müssen sie auch ‚stehlen
wie die Raben‘ , denn es füttert sie keiner. Warum sagt man nicht von
Rotkehlchen oder Blaumeisen und Amseln, dass sie ‚stehlen‘? Oder gar, dass der
himmlische Vater sie ernährt, obwohl sie nicht säen und ernten? Nur weil sie
singen, statt zu krächzen? Wer weiß denn, wie andere (z.B. Tiere) die
Rabenlieder finden? Vielleicht haben wir nur verlernt, die Schönheit eines
jeden Lebewesens zu würdigen? Jetzt schreiben wir lieber den Eulen Weisheit und
Langlebigkeit zu. Auch sie sitzen von alters her auf jemandes Schultern, denen der
griechischen Göttin Athene. Aber anders als die fleißigen Raben Odins sitzen
sie da nur rum, sowieso ist es nur eine, die längst zum Symbol geronnen ist –
Symbol der Weisheit, von der niemand weiß, woher sie kommt. Der Göttervater Zeus
bleibt wohlweislich im Hintergrund. Seine emanzipierte Tochter ist ihm manchmal
unheimlich.
Bleiben wir also bei
den Raben. Was etwa hat es mit den ‚Rabeneltern‘ auf sich? G a r
nichts. Längst haben die Zoologen endgültig geklärt, dass entgegen der
landläufigen Annahme die Eltern der Rabenkinder
fürsorglicher als viele andere Vogeleltern sind – jedenfalls, solange die
Kleinen noch nicht flügge sind. Dann allerdings entlassen sie sie kurz
entschlossen und endgültig in Freiheit und eigene Verantwortung – ein Modell,
von dem sich viele Menscheneltern eine Scheibe abschneiden könnten.
Manchmal gibt es tatsächlich solche Menscheneltern. Einerlei
ob durch die Umstände genötigt oder aus freiem Antrieb und tiefem
Menschenwissen jenseits des Bewusstseins
haben u n s e r e Eltern auf
ihre je eigene Weise - d.h.
Irrtümer, Holzwege und schreiende Misserfolge eingeschlossen -
etwas zuwege gebracht, was ich im Rückblick RABENKINDERJAHRE oder RABEN – KINDER –
JAHRE nennen möchte: eine Zeit des Aufgehobenseins, der Liebe, des
Respekts, der Selbsterkundung und des stolpernden Reifens durch Krieg, Armut,
Ungerechtigkeit, Schulversagen, Rivalität, Revolte und Niederlagen hindurch in
ein selbstbestimmtes Leben, in dem sich keiner die Flügel beschneiden lässt
oder auf irgendjemandes Schultern sitzt.
Wir haben alle fliegen gelernt, ein(e) jegliche(r)
zu seiner/ihrer Zeit. In kürzeren und längeren Geschichten wird hier
darüber berichtet, mal in der dritten, mal in der ersten Person. Dies ist keine
Biographie. Es ist das Leben von zahllosen Kindern zu jener fast schon
mythischen Zeit, am Ende des Krieges und danach. Erinnerungen lassen sich
teilen und mitteilen und werden zu einem Gewebe, einem Text, dessen Farben von
jedem anders wahrgenommen und anders
fixiert werden. Erinnerung – Wahrheit – Text – Fiktion gerinnen zu Bildern, die
wieder zu Geschichte(n) werden. Menschengeschichten.
Wir waren s i e b e n.
Wie die sieben Raben, die ich mit fünf Jahren zum ersten Mal gelesen habe. Sieben
Kinder und drei Eltern. Und das hatte mit dem Krieg zu tun. Zwei Frauen und ein
Mann. Der zweite Mann war im Krieg gestorben. Der Onkel und die Tante nahmen
alle zu sich. Ein Rabenvater, der alle gleich behandelte. Der kaum in die
Erziehung der Frauen eingriff, aber stark in den Herzen der Kinder Wurzeln
geschlagen hat. Ein ziemlich menschlicher Göttervater.
Die beiden Frauen sind seine (weisen?) Raben.