Der Vater

Ich weiß, wie er aussah. Aber wie war er wirklich? Manchmal staune ich, wie wenig ich über ihn nachgedacht habe. Aber natürlich setzte ich fraglos voraus, dass er mich sehr gern gehabt hätte. Meine Mutter sagte das oft. Auf den wenigen vergilbten Fotos, die wir haben, ist er nur mit meinen Brüdern zu sehen. Ich hab sie oft angesehen, riesig neidisch, weil er so freundlich auf sie schaut. Der Onkelvati hat mich nie so angeschaut.
 Als Kind stellte ich mir manchmal vor, es würde klingeln und er stände plötzlich in der Tür. 

Guten Tag! Bist du allein zu Hause?

Bevor ich antworten kann, sagt er:

Kann ich deine Mutti sprechen?

Mutti ist im Wohnzimmer,

sage ich zögernd und mit einer verworrenen Ahnung. Ich möchte das Spiel ein wenig weiter spielen, weiß aber nicht, wohin es läuft.

Soll ich sie holen?

Wenn du magst, können wir uns auch ein bisschen unterhalten.

Ich denke krampfhaft nach, was ich jetzt sagen könnte.

Woher kommst du? 

höre ich mich leise fragen.

Oh, von weit her!

Und willst du jetzt hier bleiben?

Er schaut mich seltsam an.

Wahrscheinlich würde ich das gern.

Darüber muss ich nachdenken. Zu viele Konjunktive. Mutti sagt immer ‚Möglichkeitsform‘.

Muss deine Mutti das erlauben? frage ich.

Er lächelt. So gefällt er mir ziemlich gut. Er sagt:

Meine nicht. Aber vielleicht Deine. Meine ist schon lange tot.

Oh je! Wieder so viel, was man gar nicht verstehen kann. Seine Mutti ist tot, darüber ist er sicher traurig, obwohl er gerade gar nicht so aussieht. Aber was hat das denn mit  m e i n e r  zu tun? Dürfen alle Muttis anderen was erlauben oder verbieten? Ich bin verwirrt und mache einen Vorstoß in eine andere Richtung.

Hast du auch Kinder?

Plötzlich strahlt er:

Ja, ja! Vier Stück! Drei Jungs und ein Mädchen. Aber ich habe sie lange nicht gesehen. Vielleicht würde ich sie gar nicht wiedererkennen.

Ich erschrecke. Mutti hat dieses Spiel einmal mit mir gespielt, hat gefragt, ob ich sie erkennen würde, wenn sie ganz doll verkleidet oder verändert wäre oder es wäre ganz dunkel. Damals habe ich furchtbare Angst gekriegt. Ich spürte eine unsichtbare Bedrohung und habe sie nie vergessen. Das Schrecklichste: Mutti unter anderen nicht herauszufinden – sie zu verlieren. Für immer. Mein Gehirn arbeitete fieberhaft. Dann flüsterte ich: Die Stimme. An der Stimme. Und meine Mutter lachte ihr dunkles Lachen und alle Gefahr war wie weggeblasen. Aber dass auch  s i e  mich vielleicht nicht wiedererkennen könnte, das war ganz einfach unmöglich. Und doch sagte dieser merkwürdige Besucher, er würde vielleicht seine eigenen Kinder nicht mehr….Er unterbricht meinen Gedankensturm:

Mein Töchterchen könnte gerade so alt sein wie du.

Ich schmecke dem Wort ‚Töchterchen‘ nach und spüre eine fremde Zärtlichkeit. Niemand sagt zuhause ‚Töchterchen‘ oder ‚Schwesterchen‘ zu mir, obwohl ich die Jüngste von allen bin. Eine nagende Eifersucht steigt in mir hoch auf das Kind dieses Mannes, das er so liebevoll ‚Töchterchen‘ nennt. Wo ist überhaupt mein Vati? Warum kümmert er sich nicht um mich? Warum sagt er nicht ‚Töchterchen‘ zu mir? Der Schmerz macht mich trotzig. Wie um ihn zu verletzen, sage ich:

Ich habe auch drei Brüder.

 Ich weiß – antwortet er. Und sie heißen Thomas, Jörn und Wilm.

Jetzt bin ich sprachlos. Woher weiß er das? Er ist doch ganz fremd und kennt vielleicht nicht mal mehr seine eigenen Kinder. Ob ich jetzt nicht doch lieber Mutti hole? Da höre ich wie durch einen 
Nebel seine Stimme:

Dann bist du doch bestimmt das jüngste Töchterchen, Elke?

Ich bin erstarrt. Ein Glücksgefühl durchrieselt mich und zugleich eine unbestimmte Angst. Die ganze Sache wird mir unheimlich. Plötzlich fällt mir ein, dass ich nicht mit Unbekannten an der Tür reden soll. Aber ich kann doch jetzt nicht einfach die Tür zuschlagen – wo er doch irgendwoher weiß, wie wir alle heißen. Ich bin noch heftig am Nachdenken, da öffnet sich die Wohnzimmertür. Mutti schaut vom einen zur anderen und sagt nichts, schaut nur. Ist stumm. Ich wage mich nicht zu rühren, spüre irgendein Geheimnis.  Dann höre ich sie wie von weit her und viel langsamer als sonst:

Ich wusste es …..

Ihre Stimme klingt ganz komisch, wie verrostet. Es gibt wieder eine ellenlange Pause. Ich schaue vom einen zur anderen. Dann sagt sie, etwas normaler:

Na, hast du dein Töchterchen erkannt?

Noch heute grüble ich darüber nach, wie es kam, dass sie plötzlich auch ‚Töchterchen‘ sagte.

2 Kommentare:

elke-liebs hat gesagt…

Das ist sehr herzbewegend - in aller Kürze die Sehnsucht nach dem Vater, der Schmerz des Verlassenseins und die selbst heilende Phantasie, die besonders Kindern eigen ist.

elke-liebs hat gesagt…

Der obige KOmmentar ist nicht von Elke Liebs, sondern nur von ihrem Computer. Ich habe vergessen, meinen Namen anzugeben: Lea Golling

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